Der Kuß der Schlange
atavistischen Einfluß aus? Wexford wußte, daß er auf weiteren Schlaf nicht hoffen konnte, also stand er um halb sieben auf und machte sich selber Frühstück. Der Gedanke, Howard vor acht Uhr anzurufen, behagte ihm nicht, aber gegen Viertel vor war er derartig nervös und kribbelig, daß er Dora eine Tasse Tee brachte und sich auf den Weg ins Büro machte. Jetzt würde Howard natürlich auch schon nach Kenbourne Vale unterwegs sein. Er war mittlerweile bitter gekränkt, und die alten Gefühle, die er früher Howard gegenüber gehegt hatte, stellten sich wieder ein. Gewiß, er hatte sich das Gefasel seines Onkels über den Fall geduldig angehört, aber was dachte er wirklich? Daß das Ganze eine Altmännerphantasie war? Die Hirngespinste eines Hinterwäldlers? Es war sehr wahrscheinlich, daß er bloß dem Onkel zuliebe mitgespielt, den Anruf bei Marcus jedoch hinausgeschoben hatte, bis er zwischen den weit wichtigeren Erfordernissen der Metropole Zeit dafür erübrigen konnte. Wahrscheinlich war er noch nicht dazu gekommen. Aber egal, es hatte keinen Sinn, darüber ähnlich paranoid zu werden wie Hathall. Er mußte in den sauren Apfel beißen, Kenbourne Vale anrufen und nochmals nachfragen.
Das tat er um halb zehn. Howard war noch gar nicht aufgetaucht, statt dessen fand er sich in eine Plauderei mit Sergeant Clements verwickelt, einem alten Freund aus den Tagen, als sie in dem Mordfall von Kenbourne Vale zusammengearbeitet hatten. Wexford war ein zu freundlicher Mensch, um den Sergeant kurzerhand abzufertigen, nachdem er erfahren hatte, daß Howard durch eine Konferenz auf höchster Ebene aufgehalten wurde, also hörte er sich geduldig alles mögliche über Clements adoptierten Sohn, über eine demnächst zu adoptierende Tochter und eine neue Maisonettewohnung an. Er könne dem Chief Superintendent ja eine Nachricht hinterlassen, meinte Clements zum Schluß, aber vor zwölf werde er nicht erwartet.
Der Anruf kam endlich um zehn Minuten nach zwölf.
»Ich habe versucht, dich zu Hause zu erreichen, bevor ich wegfuhr«, sagte Howard, »aber Dora sagte, du seist schon fort. Seitdem hab ich keine Minute Zeit gehabt, Reg.«
Aus der Stimme seines Neffen klang mühsam unterdrückte Erregung. Vielleicht war er wieder befördert worden, dachte Wexford, und ohne sonderliche Wärme sagte er: »Du hast gesagt, du wolltest mich gestern abend anrufen.«
»Hab ich auch. Um sieben. Aber eure Leitung war besetzt. Später konnte ich dann nicht mehr. Denise und ich waren im Kino.«
Es war dieser amüsierte Unterton – nein, fast schon ein Feixen, das ihm über die Hutschnur ging. Rangunterschiede hin oder her, Wexford explodierte. »Reizend«, knurrte er. »Ich hoffe bloß, die Leute in der Reihe hinter dir haben die ganze Zeit gequatscht, die Leute vor dir haben in ihren Sitzen gebumst und die in der Loge haben dir Orangenschalen auf den Kopf fallen lassen. Und was ist mit meinem Mann? Was ist mit meiner Südamerikasache, he?«
»Ach, das«, meinte Howard, und Wexford hätte schwören können, er habe ein Gähnen gehört. »Der verläßt Marcus Flower. Hat gekündigt. Mehr konnte ich nicht rauskriegen.«
»Besten Dank. Und das ist alles?«
Jetzt lachte Howard los. »O Reg«, sagte er, »es ist gemein, dich auf die Folter zu spannen, aber du warst wirklich reif dafür. Du bist so ein jähzorniger alter Teufel, da konnte ich einfach nicht widerstehen.« Er bezwang sein Lachen, und seine Stimme wurde plötzlich ernst und gemessen. »Das ist durchaus nicht alles«, sagte er. »Ich bin ihm begegnet.«
»Du bist – was? Du meinst, du hast mit Hathall gesprochen?«
»Nein, ich hab ihn gesehen. Und nicht alleine. Mit einer Frau. Ich hab ihn mit einer Frau gesehen, Reg.«
»O mein Gott«, sagte Wexford sanft, »der Herrgott hat ihn in meine Hände gegeben.«
13
»Da wäre ich nicht so sicher«, meinte Howard. »Jedenfalls noch nicht. Aber ich erzähl dir mal, wie es war. Ist doch komisch, was, wie ich damals gesagt hab, ich würde ihn wohl nie wiedererkennen müssen? Aber ich habe ihn wiedererkannt gestern abend. Also hör zu.«
Am vorangegangenen Abend hatte Howard um sieben Uhr versucht, seinen Onkel anzurufen, aber der Anschluß war besetzt gewesen. Da er ohnehin nur negative Nachrichten für ihn hatte, beschloß er, es am nächsten Morgen noch einmal zu versuchen, zumal er es eilig hatte. Denise und er wollten im West-End zu Abend essen und dann die Neun-Uhr-Vorstellung eines Films im Curzon Cinema besuchen. Howard hatte
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