Der Kuß der Schlange
war, nennt sich SÜDAMERIKATOURS, Howard. Ginge hat sich nicht getraut, ihm zu folgen, dieser feige Hund.«
Howards Stimme klang dünn und trocken. »Und jetzt denkst du, was ich auch denke.«
»Natürlich. Irgendein Ort, wo wir keine Zugriffsmöglichkeit haben. Der hat bestimmt über Eisenbahnräuber gelesen, und dabei ist er auf die Idee gekommen. Die verdammten Zeitungen stiften wirklich mehr Schaden als Nutzen.«
»Aber mein Gott, Reg, der muß ja eine Todesangst haben, wenn er es auf sich nimmt, seinen Job an den Nagel zu hängen und nach Brasilien oder sonstwohin abzuhauen. Was will er dort machen? Wovon will er leben?«
»Wie die Vögelein unter dem Himmel, mein lieber Neffe. Ja, weiß Gott. Hör mal, Howard, könntest du wohl was für mich tun? Könntest du dich bei Marcus Flower erkundigen, ob die ihn womöglich nach Übersee schicken? Ich trau mich nicht.«
»Na gut, ich traue mich«, meinte Howard. »Bloß, in dem Fall würden sie doch auch die ganze Sache arrangieren und bezahlen?«
»Aber sie würden es nicht für das Mädchen arrangieren und bezahlen, stimmt’s?«
»Also, ich tue, was ich kann, und ruf dich heute abend an.«
War das der Grund, weshalb Hathall so sparsam gelebt hatte? Um die Reisekosten für seine Komplizin zusammenzusparen? Er mußte entweder bereits drüben einen Job haben, oder aber er mußte verzweifelt darauf aus sein, sich in Sicherheit zu bringen. In dem Fall wollte das Geld für zwei Flugtickets erst einmal zusammengebracht sein. Ihm fiel ein, daß er im Kingsmarkham Courier, der ihm am Morgen auf den Schreibtisch gelegt worden war, eine Werbeanzeige für Reisen nach Rio de Janeiro gesehen hatte. Er fischte die Zeitung unter einem Papierstapel hervor und betrachtete die Rückseite. Da war sie: Hin- und Rückreise angeboten für wenig mehr als dreihundertfünfzig Pfund. Rechnete man für zwei Einzelflüge ein wenig mehr, dann wurden Hathalls Sparmaßnahmen durchaus plausibel…
Er wollte die Zeitung eben wegwerfen, da fiel sein Blick auf einen Namen in den Todesanzeigen. Somerset. »Am 15. Oktober verstarb in Church House, Old Myringham, meine geliebte Frau Gwendolen Mary Somerset. Mark Somerset. Trauerfeier am 22. Oktober in der St.-Lukas-Kirche. Bitte keine Blumen, sondern Spenden an das Heim für unheilbar Kranke in Stowerton.« So war also jene arme, ewig klagende Frau schließlich gestorben. Die ›geliebte‹ Frau? Vielleicht war sie es gewesen, vielleicht war es aber auch nur die übliche Heuchelei, eine so schale, allgemeine und automatische Formel, daß sie schon kaum noch eine Heuchelei war. Wexford lächelte flüchtig und vergaß es dann. Er ging früh nach Hause – die Stadt war ruhig und ohne Kriminalität – und wartete auf Howards Anruf.
Das Telefon klingelte um sieben, aber es war Sheila, seine jüngere Tochter. Sie und ihre Mutter plauderten etwa zwanzig Minuten lang, und danach klingelte das Telefon nicht wieder. Wexford wartete bis halb elf, dann wählte er selbst Howards Nummer.
»Verdammt noch mal, er ist ausgegangen«, sagte er verstimmt zu seiner Frau, »das ist doch wirklich die Höhe.«
»Warum soll er abends nicht ausgehen? Ich meine, er arbeitet doch hart genug.«
»Arbeite ich vielleicht nicht? Ich treib mich aber abends nicht rum, wenn ich Leuten versprochen habe, sie anzurufen.«
»Nein, aber wenn du es tätest, dann würde dein Blutdruck vielleicht nicht in die Höhe gehen wie jetzt«, sagte Dora.
Um elf versuchte er noch einmal, Howard zu erreichen, aber wieder meldete sich niemand, und er ging übelgelaunt zu Bett. Kein Wunder, daß er wieder einen seiner obsessiven Hathall-Träume hatte. Er war auf einem Flugplatz. Die große Düsenmaschine war startbereit, und die Türen waren schon geschlossen. Aber sie gingen noch einmal auf, und am Kopf der Treppe erschienen, huldvoll der jubelnden Menge zuwinkend wie ein königliches Paar, Hathall und eine Frau. Die Frau erhob die rechte Hand zu einer Abschiedsgeste, und er sah die L-förmige Narbe rot aufflammen, ein zorniges Wundmal – L für Liebe, für Leiden, für Lebewohl. Aber noch ehe er die Treppe hinaufrennen konnte, die er schon erreicht hatte, schmolzen die Stufen vor ihm dahin, das Paar zog sich zurück, und das Flugzeug stieg auf in den eisblauen Himmel.
Woran liegt es bloß, daß man, wenn man älter wird, um fünf Uhr aufwacht und nicht wieder einschlafen kann? Hat das mit dem Blutzuckerspiegel zu tun, der zu niedrig ist? Oder übt das Herannahen der Dämmerung einen
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