Der Kuß der Schlange
ebenso schockiert wie entrüstet auf ihn ein.
»Die Bücher frisiert? So was hat es bei uns nie gegeben.«
»Ich sage ja nicht, daß es bei Ihnen passiert ist, Mr. Aveney. Es ist eine reine Vermutung«, entgegnete Wexford. »Haben Sie je von der guten alten Lohnlistenmasche gehört?«
»Na ja, gut, hab ich. Wurde häufig beim Militär praktiziert. Aber hier würde damit keiner durchkommen.«
»Warten wir’s ab, ja?«
Der Personalchef, ein fader junger Mann mit wirrem Haar, wurde ihm als John Oldbury vorgestellt. Sein Büro war sehr unordentlich, und er schien leicht irritiert, so als habe man ihn bei der Suche nach etwas unterbrochen, was er sowieso nie finden würde. »Mit den Löhnen krumme Sachen machen, meinen Sie?« fragte er.
»Ich schlage vor, Sie erzählen mir mal, wie Sie bei den Lohnlisten mit dem Buchhalter zusammenarbeiten.«
Oldbury blickte beunruhigt zu Aveney hinüber, und Aveney nickte nach einem undefinierbaren Achselzucken. Der Personalchef ließ sich schwer auf seinen Stuhl nieder und fuhr mit den Fingern durch das unordentliche Haar. »Im Erklären bin ich nicht besonders gut«, fing er an, »aber ich werde es versuchen. Also das läuft so: Wenn wir eine neue Arbeiterin kriegen, dann liefere ich dem Buchhalter so die Einzelheiten über sie, und er errechnet daraus ihren Lohn. Nein, ich muß das genauer sagen. Sagen wir, wir stellen eine – also, nennen wir sie Joan Smith, eine Mrs. Joan Smith ein.« Wexford fand, Oldbury war ebenso phantasielos wie unartikuliert. »Dann sag ich dem Buchhalter also ihren Namen und ihre Adresse, sagen wir …«
Um seiner Einfallslosigkeit eine totale Pleite zu ersparen, sagte Wexford schnell: »Gordon Road 24, Toxborough.«
»Oh, fein!« Der Personalchef strahlte vor Bewunderung. »Ich sag ihm also, Mrs. Joan Smith, Gordon Road soundso, Toxborough …«
»Und wie sagen Sie es ihm? Per Telefon? Durch eine schriftliche Notiz?«
»Entweder – oder. Natürlich mache ich mir Vermerke. Ich habe nämlich«, setzte Oldbury unnötigerweise hinzu, »kein sehr gutes Gedächtnis. Ich teile ihm also ihren Namen und ihre Adresse mit und wann sie bei uns anfängt und ihre Arbeitszeit und was sonst noch, und er gibt das alles in den Computer ein – und fertig ist der Lack. Und danach mach ich das dann noch mal wöchentlich mit ihren Überstunden – oder was sonst so ist.«
»Und wenn sie wieder geht, sagen Sie ihm das auch?«
»Aber sicher.«
»Die gehen ja ständig. Rein und raus, so ist das dauernd«, warf Aveney ein.
»Und die kriegen alle wöchentlich ihre Lohntüte?«
»Nicht alle«, sagte Oldbury. »Sehen Sie, einige unserer Damen brauchen ihre Löhne nicht für – na ja, für den Haushalt. Bei denen sind die Ehemänner die – wie nennt man das doch?«
»Ernährer?«
»Ah, gut, die Ernährer. Die Damen, ich meine, manche, sparen sich ihren Verdienst für die Ferien, oder um die Wohnung zu verschönern oder, oder einfach bloß so, nehme ich an.«
»Gut, ich verstehe. Und was ist mit denen?«
»Ja«, sagte Oldbury triumphierend, » die kriegen keine Lohntüte. Deren Bezüge werden auf ein Bankkonto gezahlt – oder wohl meist eher auf ein Postscheck- oder Sparkassenkonto.«
»Und wenn das so ist, dann sagen Sie das dem Buchhalter, und er gibt es in seinen Computer ein?«
»Das macht er, ja.« Oldbury lächelte entzückt, weil er sich so verständlich gemacht hatte. »Sie haben vollkommen recht. Schnelle Auffassungsgabe, wenn ich’s mal so sagen darf.«
»Danke, danke«, versetzte Wexford, leicht benommen von dem trotteligen Charme des Mannes. »Dann könnte also der Buchhalter einfach eine Frau erfinden und ihren fiktiven Namen plus Adresse in den Computer einspeisen? Und ihr Gehalt würde dann auf ein Bankkonto fließen, das der Buchhalter – oder vielmehr sein weiblicher Komplize – nach Belieben eröffnen könnte?«
»Aber das«, sagte Oldbury todernst, »wäre doch Betrug.«
»Allerdings. Aber da Sie Ihre Personallisten aufbewahren, können wir ja sehr einfach feststellen, ob solch ein Betrug vorgekommen ist.«
»Natürlich können wir das.« Der Personalchef strahlte von neuem und trat eifrig an einen Aktenschrank, dessen offene Schubladen mit zerknitterten Dokumenten vollgestopft waren. »Nichts leichter als das. Wir heben sie ein ganzes Jahr auf, nachdem eine unserer Damen uns verlassen hat.«
Ein ganzes Jahr… Und Hathall war vor achtzehn Monaten gegangen. Aveney führte ihn zurück durch die Fabrik, wo die Arbeiterinnen jetzt durch
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