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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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Spuren getilgt.«
    Seine Fragen waren beantwortet, und es bestand kein Grund mehr, zu fragen, wo sie gewesen war, als Angela starb, oder wo Somerset gewesen war, oder jene Geheimnisse um sie und Somerset zu ergründen, die jetzt keine Geheimnisse mehr waren. Er könnte sich also eigentlich verabschieden und gehen, dachte er, als er ihr durch die Diele in ein wärmeres Zimmer mit intimerem Flair folgte, mit tiefen, vollen Farben, in welchem es keine harten Konturen zu geben schien, nur Seide, die mit Samt verschmolz, und Samt, der in Brokat überging. Noch ehe sie die Tür schließen konnte, streckte er ihr die Hand hin und setzte zu einer kleinen Dankes- und Abschiedsrede an. Aber sie nahm seine Hand in ihre beiden Hände.
    »Am Montag werde ich fort sein«, sagte sie und blickte ihm voll ins Gesicht. »Dann ziehen die neuen Leute ein. Wir werden uns nie wieder begegnen. Das verspreche ich Ihnen, wenn Sie wollen.«
    Bis zu diesem Augenblick hatte er an ihren Absichten gezweifelt. Jetzt war kein Zweifel mehr möglich.
    »Und wieso glauben Sie, ich wäre gern der letzte Seitensprung einer Frau, die zu ihrer ersten Liebe zurückkehrt?«
    »Ist das nicht ein Kompliment?«
    Er sagte: »Ich bin ein alter Mann, und ein alter Mann, der auf Komplimente hereinfällt, ist bemitleidenswert.«
    Sie errötete ein wenig. »Ich werde bald eine alte Frau sein. Wir könnten doch gemeinsam bemitleidenswert sein.« Ein wehmütiges Lachen ließ ihre Stimme zittern. »Bitte gehen Sie trotzdem noch nicht. Wir können doch – miteinander reden. Wir haben noch nie wirklich miteinander geredet.«
    »Wir haben nichts anderes getan als geredet«, erwiderte Wexford, aber er ging nicht. Er ließ sich von ihr zu einem Sofa führen, sie setzte sich neben ihn, und sie redete von Somerset und Somersets Frau und den neunzehn Jahren der Heimlichkeiten und Täuschungen. Ihre Hand lag in der seinen, und während er ihr entspannt zuhörte, fiel ihm ein, wie er zum erstenmal diese Hand gehalten hatte, und auch ihre Worte, als er sie den Bruchteil einer Sekunde zu lange gehalten hatte. Schließlich stand sie auf. Er erhob sich ebenfalls und führte jene Hand an seine Lippen. »Ich wünsche Ihnen Glück«, sagte er. »Ich hoffe, Sie werden sehr glücklich.«
    »Ich hab ein bißchen Angst, wissen Sie, wie das sein wird nach all der Zeit. Verstehen Sie, was ich meine?«
    »Natürlich.« Er sagte es freundschaftlich, alle Aufgebrachtheit war verschwunden, und als sie ihn bat, mit ihr einen Drink zu nehmen, sagte er: »Ich werde auf Sie und Ihr Glück trinken.«
    Da legte sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn. Der Kuß war impulsiv und leicht und schon vorbei, ehe er ihn erwidern oder sich wehren konnte. Sie verschwand für mehrere Minuten aus dem Zimmer – mehr Minuten, als nötig waren, Gläser und Flaschen zu holen. Er hörte über sich das Geräusch von Schritten, und da wußte er, wie sie sein würde, wenn sie wiederkäme. Also mußte er sich entscheiden, was er tun wollte, gehen oder bleiben. Die Rose – eines anderen Mannes Rose – pflücken, solang sie noch blühte? Oder ein alter Mann sein, Träume träumen und den ehelichen Treuegelöbnissen eingedenk bleiben?
    Sein ganzes Leben der letzten Zeit kam ihm vor wie eine einzige Kette von Fehlern, halbherzigen Anläufen und feigen Kompromissen. Und doch war sein ganzes Leben der letzten Zeit auf das ausgerichtet gewesen, was er für gut und richtig hielt. Vielleicht lief es im Endeffekt auf dasselbe hinaus?
    Schließlich ging er in die Diele. Er rief ihren Namen: »Nancy!« Zum ersten und einzigen Mal benutzte er ihren Vornamen, und als er am Fuß der Treppe stehenblieb, da sah er sie oben stehen. Das Licht dort war sanft und freundlich, unnötig freundlich, und sie war so, wie er es schon gewußt, wie er sie schon in seinen Phantasien gesehen hatte – nur noch viel schöner, schöner als in allen seinen Erwartungen.
    Er sah sie an mit staunendem Wohlgefallen, sah sie minutenlang an. Doch sein Entschluß war gefaßt.
    Nur der Tor hängt Vergangenem an – voller Bedauern über verpaßte Gelegenheiten oder voll wehmütiger Erinnerung an genossene Freuden. Er bedauerte nichts, denn er hatte nur getan, was jeder Mann von Vernunft in seiner Position getan hätte. Er hatte seine Entscheidung während jener Momente getroffen, als sie ihn allein gelassen hatte und aus dem Zimmer gegangen war, und an diesen Entschluß hatte er sich gehalten, überzeugt, daß er so handelte, wie es ihm und seinen

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