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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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obwohl sie noch gar nicht da war. Es gelang ihm, zwei Plätze in einer Ecke zu ergattern, und über einen davon legte er seinen Mantel, um ihn freizuhalten. Die meiste Zeit verdeckten die vielen Leute mir die Sicht auf ihn, aber ich konnte dieses Glas mit dem gelben Pernod sehen, das auf dem Tisch stand und darauf wartete, daß sie kam und es austrank.
    Entweder war Hathall zu früh dort oder sie zehn Minuten zu spät. Ich wußte gar nicht, daß sie gekommen war, bis ich eine Hand sah, die sich um das gelbe Glas schloß und es hochhob, bis es aus meinem Gesichtsfeld verschwand. Da setzte ich mich in Bewegung und drängte mich durch die Menge, um besser sehen zu können. Es war dieselbe Frau, die ich mit ihm vor dem Marcus-Flower-Gebäude gesehen habe, eine hübsche Frau Anfang Dreißig mit kurzem, blondgefärbtem Haar. Nein, frag nicht. Ich habe ihre Hand nicht gesehen. Ich war sowieso schon zu nahe dran. Ich glaube, Hathall hat mich wiedererkannt. Mein Gott, er hätte ja auch blind sein müssen, um nichts zu merken, trotz aller Vorsicht, die ich habe walten lassen.
    Sie tranken ihre Gläser sehr schnell aus und drängten sich nach draußen. Sie muß dort ganz in der Nähe wohnen, aber wo genau, kann ich dir nicht sagen. Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Als ich herauskam, sah ich sie davongehen, und ich wollte ihnen zu Fuß folgen. Da kam ein Taxi vorbei, und sie stiegen ein. Hathall hat nicht mal gewartet, um dem Fahrer das Fahrtziel zu nennen. Er stieg nur ein und muß ihm hinterher Anweisungen gegeben haben. Er wollte auf jeden Fall seinen Verfolger abschütteln, und ich konnte ja nicht hinter ihm her. Das Taxi fuhr die Pembridge Road hinauf, und ich verlor sie aus den Augen – verlor sie glatt aus den Augen und fuhr nach Hause.
    Und damit Schluß mit Robert Hathall, Reg. Die Jagd ist vorüber. Ich dachte wirklich … aber vergiß es. Du hast auf der ganzen Linie recht gehabt, und das ist leider dein einziger Trost.«
    Wexford sagte seinem Neffen gute Nacht, und sie sähen sich ja am Weihnachtsabend. Über ihm dröhnte ein Flugzeug, das in Gatwick gestartet war. Er trat an sein Schlafzimmerfenster und beobachtete, wie seine weißen und roten Lichter gleich Meteoren über den sternklaren Himmel fuhren. Nur noch ein paar Stunden, und Hathall würde auch in einem solchen Flugzeug sitzen. Gleich morgen früh? Oder ein Nachmittagsflug? Oder würden er und sie über Nacht fliegen? Er mußte feststellen, daß er sehr wenig über Auslieferungsmodalitäten wußte. Es hatte für ihn bislang kein Grund bestanden, sich damit vertraut zu machen. Und diese Dinge hatten sich in jüngster Zeit so merkwürdig entwickelt, daß ein Land vermutlich unverblümt feilschte, daß es irgendwelche Konzessionen oder Gegenleistungen verlangte, ehe es einen fremden Staatsangehörigen auslieferte. Außerdem, bei Mord mochte ja eine Auslieferung durchzusetzen sein, bei Betrug ganz bestimmt nicht. Auf arglistige Täuschung gemäß Paragraph 15 des Diebstahlgesetzes von 1968 würde die Anklage hinauslaufen, überlegte er. Und plötzlich erschien es ihm völlig absurd, die ganze politische Maschinerie in Gang zu setzen, bloß um einen Mann aus Brasilien herauszuholen, der sich an den Lohngeldern einer Plastikpuppenfabrik vergriffen hatte.
    Er dachte an Crippen, den man mitten auf dem Ozean durch eine drahtlose Übermittlung gestellt, an Zugräuber, die man nach einer langen Periode der Freiheit im fernen Süden geschnappt hatte, an Filme, die er gesehen, in denen irgendein Krimineller, der sich wohlgemut in Sicherheit wiegt, plötzlich die schwere Hand des Gesetzes auf der Schulter spürt, während er in einem sonnigen Straßencafé seinen Wein trinkt. Das war nicht seine Welt. Er sah sich nicht – nicht einmal in einer untergeordneten Rolle – als Akteur in solch einem exotischen Drama. Statt dessen sah er Hathall davonfliegen in die Freiheit, in ein Leben, das er geplant, für das er einen Mord begangen hatte, während vielleicht in ein, zwei Wochen Lovat gezwungen war, sich geschlagen zu geben, weil er auf keinerlei Betrug oder arglistige Täuschung gestoßen war, sondern bloß auf ein paar vage Verdachtsmomente, wegen der man Hathall hätte zur Rede stellen können – wenn Hathall verfügbar gewesen wäre.
    Der Tag war da.
    Wexford war früh wach und dachte an Hathall, der wohl ebenfalls schon wach war. Am Abend zuvor hatte er Howard bemerkt, hatte befürchten müssen, daß er weiterhin verfolgt würde, und sicher nicht riskiert,

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