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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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Grundsätzen entsprach. Und doch war er erstaunt, wie spät es geworden war, als er zu Hause in die Tür trat, fast acht Uhr. Seine Grübeleien über das Verstreichen der Zeit fielen ihm wieder ein, und schon fing er wieder an, die Minuten zu zählen, schon rechnete er sich aus, daß es nur noch an die dreieinhalbtausend waren. Nancys Gesicht verblaßte, ihre Wärme verflüchtigte sich. Schnurstracks ging er in die Küche, wo Dora noch einen weiteren Schub Weihnachtsplätzchen backte, und fragte ziemlich forsch: »Hat Howard angerufen?«
    Sie blickte auf. Er hatte vergessen – er vergaß das immer wieder –, wie scharfsinnig sie war. »Der würde doch um diese Zeit nicht anrufen, oder? Das tut er doch höchstens als letztes spätabends oder als erstes gleich frühmorgens.«
    »Stimmt, ich weiß. Ich bin eben bloß so nervös wegen dieser Sache.«
    »Das bist du allerdings. Du hast vergessen, mir einen Kuß zu geben.«
    Also küßte er sie, und das jüngst Vergangene war wie weggeblasen. Kein Bedauern, ermahnte er sich, keine Sentimentalität, kein Grübeln. Er griff sich ein Plätzchen und biß in die heiße, rösche Kruste.
    »Davon wirst du dick und fett und abstoßend.«
    »Vielleicht«, meinte Wexford nachdenklich, »wäre das gar nicht mal so schlecht – in Grenzen natürlich.«

20
    Sheila Wexford, Schauspielerin und des Chief Inspectors älteste Tochter, traf am Samstag vormittag ein. Es sei schön, sie leibhaftig vor sich zu sehen, meinte ihr Vater, statt immer nur zweidimensional in ihrer Fernsehserie. Sie tänzelte durchs Haus, arrangierte die Karten kunstvoller und sang dabei »… dreaming of a white Christmas«. Es sah jedoch ganz so aus, als ob es ein nebliges Weihnachten würde. Die Langzeit-Wettervorhersage jedenfalls hatte es so angekündigt, und nun schien diese Prognose wahr zu werden. Der weiße Morgennebel verhüllte gegen Mittag vollständig die Sonne, und gegen Abend war er dick und gelblich.
    Der kürzeste Tag des Jahres. Wintersonnenwende. Arktisch die Lichtverhältnisse, arktisch auch die Temperatur. Bereits um drei Uhr verdüsterte der Nebel das Tageslicht und kündigte eine siebzehnstündige Dunkelheit an. Überall in den Straßen sah man die Weihnachtsbäume nur als trübes, gelbliches Glimmen hinter den Fenstern. Siebzehn Stunden Dunkelheit, sechsunddreißig Stunden nur noch.
    Wie versprochen rief Howard abends um zehn an. Hathall war seit drei Uhr in der Dartmeet Avenue allein in seinem Zimmer gewesen. Howard rief aus der Telefonzelle gegenüber der Nummer 62 an, aber jetzt würde er nach Hause fahren. Seine sechs Wachtposten-Abende waren vorbei – der heute war bereits ein zusätzlicher gewesen, drangehängt, weil er sich nicht geschlagen geben wollte, aber jetzt ginge er heim.
    »Ich beobachte ihn morgen auch noch mal, Reg. Zum letztenmal.«
    »Hat das noch irgendeinen Sinn?«
    »Ich hab dann wenigstens das Gefühl, die Sache so gründlich wie nur irgend möglich gemacht zu haben.«
    Hathall war den großen Teil des Tages allein gewesen. Hieß das, er hatte seine Freundin schon vorausgeschickt? Wexford ging früh zu Bett, lag wach und dachte an Weihnachten, dachte daran, wie er und Howard sich in einen stillen Winkel zurückziehen würden zu einer abschließenden Betrachtung all dessen, was passiert war, was sie sonst noch hätten tun können, was hätte geschehen können, wenn nicht Griswold am 2. Oktober vor einem Jahr seinen Bann verhängt hätte.
    Am Sonntag begann sich der Nebel zu lichten. Die vage Hoffnung, die Wexford gehegt hatte, nämlich daß der Nebel Hathall zwingen werde, seine Abreise zu verschieben, schwand dahin, als die Sonne gegen Mittag hell und strahlend zum Vorschein kam. Er hörte die Nachrichten ab, aber kein Flughafen war geschlossen, kein Flug abgesagt. Und als der Abend mit einem leuchtenden Sonnenuntergang an klarem, frostigem Himmel begann – als ob der Winter nach Überschreiten der Sonnenwende bereits den Todeskeim in sich trüge –, da wußte er, daß er sich mit Hathalls gelungener Flucht abfinden mußte. Es war alles vorbei.
    Aber wenn er sich auch zwingen konnte, nicht zu grübeln, soweit es Nancy Lake betraf, so konnte er doch nicht umhin, voll Bitterkeit und Bedauern über die lange Periode nachzusinnen, während der er und Hathall Feinde gewesen waren. Wie anders hätten die Dinge verlaufen können, wenn er rechtzeitig auf die Sache mit dem Lohnlistenbetrug gekommen wäre – wenn es denn ein Betrug gewesen war. Ebenso hätte er wissen

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