Der Kuss der Sirene
zurückziehen, bevor die Abenddämmerung hereinbricht. Bohnen, Mais und Tomaten, alles aus der Dose und dazu eine Packung Nudeln. Ich werde das Ganze mit etwas Tiefkühlgemüse in einen Topf geben und eine Suppe daraus machen. Grandma liebt Suppen.
Ich fülle einen Topf mit Wasser, stelle ihn auf den Herd und drehe den Schalter auf die höchste Stufe. Als ich eine Kelle aus der Schublade hole, nehme ich aus dem Augenwinkel etwas Rosafarbenes wahr. Grandma schlurft auf mich zu und ich strahle sie an. Hoffentlich kann ich meine Anspannung nach dem schrecklichen Tag in der Schule verbergen.
»Lexi, Liebling, ich habe dich gar nicht kommen hören.«
»Du hast geschlafen.«
Sie runzelt die Stirn. »Du solltest an deinem Geburtstag nicht kochen müssen.«
»Ich weiÃ, aber ich koche gern.« Ich gebe die Nudeln in den Topf und drehe mich wieder zu ihr um. »Alles in Ordnung, wirklich. Du kannst dich hinsetzen. Das Essen ist in zwanzig Minuten fertig.«
Sie verlässt die Küche und läuft langsam den Flur entlang, ihre Pantoffeln schleifen über das Parkett.
Ich summe vor mich hin, während ich die Tomatendose öffne und den Inhalt in den Topf kippe. Du Schule ist einfach Mist, nur in der Normalität meines Zuhauses finde ich Trost und kann etwas Abstand gewinnen von meinen Problemen, die man kaum noch als menschlich bezeichnen kann. Wenn ich zu Hause bin, muss ich nicht ständig darauf achten, was hinter meinem Rücken passiert.
Ich fische die italienische Gewürzmischung aus dem Schrank und streue etwas davon in den Topf. Dann lehne ich mich mit der Hüfte gegen den Küchentresen und beobachte, wie die Suppe langsam aufkocht.
Da höre ich die schlurfenden Schritte zurückkommen. Das Gesicht meiner GroÃmutter ist hinter einem groÃen Paket verborgen, das in einfaches braunes Packpapier eingeschlagen ist. Grandmas faltige Hände halten es ganz fest.
»Wir hatten doch abgemacht: Keine Geschenke!«, sage ich. Ich weigere mich, irgendetwas von ihr anzunehmen bis auf eine kleine Spende für das dringend benötigte Benzin.
»Das ist nicht von mir«, antwortet sie und stellt das Paket auf den Tresen.
Als ich die Handschrift darauf entdecke, wird mein Mund trocken.
»Es ist von deiner Mutter. Sie hat es mir gegeben, bevor â¦Â« Ihre Stimme versagt, sie räuspert sich. »Sie wollte, dass du es bekommst.«
Ich runzle die Stirn. »Du hast es sechs Jahre lang aufbewahrt?«
»Ich hatte Angst, es könnte dich zu sehr aufwühlen, in ihren alten Sachen zu stöbern. Doch jetzt bist du erwachsen. Es gehört dir, wenn du willst.«
»Oh.« Ich starre auf das Geschenk.
Sie legt die Hand auf meinen Arm. »Ich passe auf die Suppe auf. Warum gehst du nicht in dein Zimmer und öffnest es?«
Diesmal wehre ich mich nicht. Ich nehme das Paket, gehe in mein Zimmer und schlieÃe leise die Tür. Ich hocke mich ganz nah an die Bettkante, auf die alte geblümte Decke meiner Mutter. Unsere gemeinsame Zeit in einem Mietshaus auf der anderen Seite der Stadt scheint mir Ewigkeiten her zu sein.
Eine Weile starre ich das Geschenk nur an. Ich habe Angst davor, es zu öffnen. Was, wenn etwas Albernes wie ein Schmuckkästchen oder ein Teddybär zum Vorschein kommt?
Ich brauche kein Geschenk, sondern Antworten. Jemand soll mir sagen, was ich tun soll. Mir verraten, wie ich die Leben, die ich zerstört habe, wieder heil machen kann.
Ich reiÃe das Papier auf. Mein Herz pocht laut. Das Paket ist schwer, ich öffne den Deckel und greife hinein. Meine Finger ertasten ein Stück Papier. Vorsichtig ziehe ich es heraus, falte es auseinander und atme tief ein.
Für meine Tochter zu ihrem sechzehnten Geburtstag.
Ich bedaure sehr, dass ich heute nicht für dich da sein kann, jetzt, da du mich so nötig brauchst. Ich hoffe, dieser Brief wird dir helfen zu verstehen, was auf dich zukommt.
Erst als ein dunkler Klecks auf dem Papier erscheint, merke ich, dass ich weine. Das Paket war eigentlich für meinen sechzehnten Geburtstag bestimmt. Für jenen Tag, der alles verändert hat. Hat meine GroÃmutter nur vergessen, es mir rechtzeitig zu geben? Oder hat meine Mutter ihr nicht gesagt, wann ich es bekommen soll?
Ich lese die Nachricht noch einmal. Kein Zweifel: Meine Mum wusste, dass sie mich verlassen würde. Sie schrieb diese Zeilen vier Jahre, bevor ich sie lesen sollte.
Schrieb sie die
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