Der Kuss der Sirene
eigentlichen Diskussion beginnen.«
Ich nicke und mir dreht sich der Magen um. Ich spüre, dass die Sonne schon fast am Horizont verschwunden ist.
»Ihr habt euch doch die Karteikarten angesehen, oder?«
»Ja, Sienna .« Am liebsten hätte ich sie daran erinnert, dass ich bis zu Stevens Tod ihre einzige Konkurrentin um den Platz als Jahrgangsbeste gewesen war. Nach der besagten Nacht blieb ich der Schule zwei Wochen fern und bemühte mich nicht einmal darum, Hausaufgaben zu machen. In diesem Halbjahr bekam ich nur B-Noten. Das war das einzige Mal, dass mein Notendurchschnitt nicht besser als 2,0 war. Doch das reichte schon aus, hinter Siennas tadellosen Leistungen zurückzufallen.
Eigentlich hätte sie nach dem Tod ihres Bruders einbrechen müssen. Stattdessen trieb er sie zu weiteren Höchstleistungen an.
»Ausgezeichnet. Als diejenige mit Pro-Argumenten musst du anfangen. Cole wird dann versuchen, deine Meinung Punkt um Punkt zu widerlegen â¦Â«
Sienna redet weiter, aber ihre Stimme dringt nur noch als fernes Summen in meine Ohren. Es ist jetzt nach Sonnenuntergang, unsichtbare Bande ziehen mich zum Wasser hin. Meine Hände verkrampfen sich im Schoà und ich klopfe ungeduldig mit den FüÃen auf den Parkettboden. Ich kann das Verlangen, einfach aufzustehen und in die Dünen hinauszuwandern, kaum noch unterdrücken.
Doch Sienna holt immer weiter aus und ich werde immer gereizter. Ich beiÃe die Zähne zusammen und zwinge mich, ihr zuzuhören. Mir ist, als würden die Wellen gegen meinen Rücken schlagen, als wollten sie, dass ich mich umdrehe.
Es vergehen zehn weitere qualvolle Minuten, in denen wir durchkauen, wie die Debatte ablaufen soll. Am Schluss kostet es mich groÃe Kraft, nicht sofort aufzuspringen und in Rekordgeschwindigkeit zu meinem Wagen zu rennen.
Cole bringt Sienna und mich zur Tür und ich schmecke schon die nahe Freiheit, fühle das Wasser über meine Haut streichen. Wir trennen uns ohne Abschied. Ich steige gerade in meinen Wagen, als Siennas Coupé bereits mit quietschenden Reifen durch das Eisentor verschwindet. Ich bin wohl nicht die Einzige, die es eilig hat.
Ich zittere vor Kälte, als ich den Zündschlüssel umdrehe. Und dann ⦠nichts. Kein Motorengeräusch, nur ein hässliches Klicken. Nein, bitte, das darf nicht wahr sein ⦠Ich schlieÃe die Augen und versuche es noch einmal. Ich halte den Atem an, aber der Wagen weigert sich immer noch zu starten.
Das darf nicht wahr sein! Ich muss in die Berge! Ich muss zu meinem See! Ich muss schwimmen! Tränen steigen mir in die Augen. Wenn ich nicht mehr zum See fahren kann ⦠werde ich schlieÃlich doch dem Drang nach dem Meer nachgeben? Nein, nein, das darf nicht passieren! Ich werde den Wagen reparieren lassen und wenn ich dafür eine Niere verkaufen muss.
Obwohl ich mir Mut zurede, steigt die Panik unaufhaltsam in mir hoch. Tränen laufen mir über Wangen und Kinn. Ich lege beide Hände auf das Lenkrad und vergrabe mein Gesicht zwischen den Armen. Mein Körper wird von Schluchzern erschüttert. Ich kann nicht atmen. Ich kann nicht denken.
Da klopft es an der Scheibe und ich zucke zusammen. Cole steht neben dem Wagen, doch durch die Tränen hindurch kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.
»Geh weg!«, bringe ich mit erstickter Stimme hervor.
Er ruckelt an der Fahrertür, aber sie ist verschlossen. Ich schlieÃe die Augen und hoffe, dass er einfach verschwunden ist, wenn ich sie wieder öffne.
Für einen Moment scheint es, als sei mein Wunsch in Erfüllung gegangen. Doch dann öffnet sich quietschend die Beifahrertür und Cole rutscht auf den Sitz neben mir.
Ich kneife die Augen noch fester zu. »Bitte geh einfach weg«, sage ich. Warum ist er hier? Was schert er sich nach zwei Jahren plötzlich um mich?
Ich spüre seine Hand auf meinem Arm und zucke zurück. Ich verdiene keinen Trost. Nicht nach dem, was ich getan habe. Oder wieder tun könnte.
Cole gibt nicht auf und legt die Hand auf meine Schulter. Diesmal lasse ich es geschehen. Die Berührung seiner Fingerspitzen dringt durch meine Jacke und brennt auf meiner Haut. Es ist so lange her, seit mich jemand berührt hat. Seine Hand scheint hundert Kilo schwer zu sein, so ungewohnt fühlt sich die Berührung an. Aber es ist ein gutes Gefühl.
»Geht es dir gut?«
Ich hebe den Kopf und funkele ihn an, dann
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