Der Kuss der Sirene
gedeckten Grün, das von grauen Steindekorationen unterbrochen wird. Unter dem ausladenden Dach erheben sich groÃe Natursteinsäulen. Das Haus hat locker siebenhundert Quadratmeter, vielleicht sogar mehr. Da passt fast die halbe Schule rein, wenn Cole eine Party macht.
Die beiden Eingangstüren sind fast vier Meter hoch und haben Bleiglasfenster. Auf der linken Seite erstreckt sich ein riesiger Garagenkomplex mit einer breiten Zufahrt, während der Rest des Hauses von gepflegten Rasenflächen umgeben ist. Nicht weit vom beleuchteten Vordereingang entfernt befindet sich ein groÃer Teich mit einem Wasserfall.
Zögernd steige ich aus. Wir sind verabredet, um die Arbeit an unserem Englischprojekt fortzusetzen. Siennas glänzendes blaues Coupé parkt vor einer der Garagentüren, als würde es ihr gar nicht in den Sinn kommen, dass sie jemandem die Zufahrt versperren könnte.
Ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen. Ich habe seit Stevens Beerdigung keine Sekunde auÃerhalb der Schule mit Sienna verbracht. Nur ein paar Meter weiter die StraÃe hinunter ist der Ort, an dem unsere Freundschaft geendet hat. Ich steige zur Veranda hinauf und bleibe stehen. Ich höre das Flüstern des Meeres.
Widerstrebend strecke ich die Hand aus und drücke auf den Klingelknopf. Drinnen ist ein feines, gedämpftes Läuten zu hören.
Cole öffnet die Tür. Er lächelt, als wäre er froh, mich zu sehen. Er fährt sich durch das strubbelige braune Haar und bittet mich ins Haus. Er trägt einen warmen, smaragdgrünen Pullover und eine weite blaue Jeans. An den FüÃen hat er weder Schuhe noch Strümpfe und das kommt mir überraschend vertraut vor.
Die Eingangshalle ist riesig. Ein Kristallleuchter hängt hoch oben an der Decke und makellos glänzende Parkettböden mit aufwendigen Mustern führen in alle Richtungen.
Ich folge Cole in eine riesige Küche mit Dutzenden kirschroten Schränken und Arbeitsplatten aus Granit. Deckenhohe Fenster erstrecken sich über eine mindestens zehn Meter lange Wand. Und erst dieser Ausblick! Coles Haus liegt auf einer Anhöhe, von der aus man die Sanddünen und das lebendige, atmende Meer sehen kann. Mir ist, als könnte ich es berühren, so nah sind die Wellen.
Es wird nicht gerade leicht werden. Die Sonne geht in zehn Minuten unter. Dann wird das Meer nach mir rufen. Wir werden unser Arbeitstreffen schnell hinter uns bringen müssen.
Ich wende mich ab und schaue mich in der Küche um. Sienna sitzt an einem Ende der groÃen Kochinsel und dreht eine Haarsträhne um ihren Füller.
Sie blickt auf und scheint auf eine Beleidigung von mir gefasst zu sein. Aber ich bringe kein Wort heraus. Sie verdreht die Augen und wendet sich wieder ihren Aufzeichnungen zu.
»Möchtest du etwas trinken? Eine Cola oder ein Wasser?«, fragt Cole.
Ich schüttele den Kopf und setze mich auf den Hocker, der am weitesten von Sienna entfernt ist. Cole nimmt zwischen uns Platz. Ich krame die zerknitterten Karteikarten aus meiner Hosentasche und staple sie vor mir auf.
Sienna macht ein finsteres Gesicht. »Du solltest besser keine dieser Karten verlieren. Ich habe hart daran gearbeitet.«
»Wie du meinst.«
Einen Moment sieht es so aus, als wollte sie zurückfeuern, doch dann rollt sie nur mit den Augen. »Also gut, dank dieses blöden Feueralarms haben wir wertvolle Zeit verloren. Wenn wir unseren Vortrag heute Abend nicht üben, können wir einpacken.« Sie sieht mich an, als wäre ich für den Feueralarm verantwortlich. Als hätte ich gern heute Nachmittag fünfundzwanzig Minuten auf dem Parkplatz verbracht, während die Feuerwehr herausfand, dass sich irgendein Genie einen Streich erlaubt hatte.
»Als Moderatorin sollte ich das Buch zunächst kurz vorstellen«, sagt Sienna mit dem rosa Füller in der Hand. Vor ihr liegt ein Blatt Papier, das mit ihrer schnörkeligen Handschrift bedeckt ist. »Ich werde etwas zur Geschichte sagen, über ihren Erfolg sprechen, die TV -Serie erwähnen. Am Schluss komme ich zu den gegensätzlichen Einschätzungen: Die einen halten die Romane für Schundliteratur, die anderen betrachten sie als satirische Darstellung der Oberschicht.« Sie blättert eine Seite in ihrem Notizbuch um. Hoffentlich bleibt uns eine weitere Seite voller Stichpunkte erspart. »Die Einleitung sollte drei oder vier Minuten dauern, dann werden wir mit der
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