Der Kuss der Sirene
will, doch sie schweigt.
»War heute irgendwas Besonderes?«, frage ich.
Sie kaut auf ihrer Lippe, während sie in den Beutel greift und neue Buchstaben zieht. »Oh, nicht wirklich. Ich war beim Turnen im Seniorenzentrum. Und bei dir?«
Ich starre auf meine Spielsteine. Ich habe ein paar Konsonanten und nur einen Vokal gezogen, ein A. Als ein Holzscheit zerbricht, lodert das Feuer im Kamin auf und wirft einen orangefarbenen Schein.
»Wir haben in Englisch eine neue Aufgabe bekommen, die wir in Gruppen bearbeiten. Wir sollen einen Roman lesen und dann werden wir vor der Klasse darüber diskutieren.«
»Wirklich?« Sie hebt eine Augenbraue.
Ich lege » MAST « auf das Spielbrett und erreiche damit nur eine mickrige Punktzahl. Grandma ist bei Scrabble nicht besonders gut, aber ich lasse sie gern gewinnen. Ich muss nur aufpassen, dass sie nicht dahinterkommt.
»Ja. Die Lehrerin hat mich mit Sienna und Cole zusammengesteckt.«
Grandma schiebt ihre Spielsteine hin und her. Sie bringt die Buchstaben in eine bestimmte Reihenfolge, legt sie wieder um und ordnet sie dann erneut auf ihrer kleinen Ablage. »Schön, dass du mit deinen Freunden in einer Gruppe bist.« Sie hebt den Blick und schaut mich unverwandt an, während ich mich um ein unbewegtes Gesicht bemühe. Schnell nehme ich ein paar neue Spielsteine aus dem Beutel, in der Hoffnung, dass mich mein ausweichendes Verhalten nicht verrät.
Erst vor Kurzem hat sie zum ersten Mal Verdacht geschöpft. Es war ihr aufgefallen, dass ich den ganzen Sommer über allein blieb, Lehrbücher zur Vorbereitung aufs College las und mir Dokumentationen im Fernsehen ansah. Ich erzählte ihr, dass Sienna die Ferien mit ihrer Familie in Frankreich verbrachte. Doch das funktionierte nur so lange, bis ihr Siennas Mum zufällig in der Bank über den Weg lief. Ich lieà mir schnell einen Grund einfallen, weshalb Sienna und ihre Familie früher nach Hause gekommen waren. Allerdings zweifelte ich schwer daran, dass Grandma mir das abkaufte.
»Ja, das ist toll. Zusammen können wir sicher leicht eine gute Note bekommen.«
»Und wie sind die anderen Kurse so?«
Ich zucke die Schultern. »Alles wie gehabt. Es sind ein paar echt gute Lehrer dabei.«
Sie nickt und legt schlieÃlich das Wort » FLEISCH «. »Du solltest bald mal wieder einen DVD -Abend machen so wie früher. Lad doch Sienna dazu ein. Dann könnt ihr euer Lieblingspopcorn machen.« Sie beobachtet genau meine Reaktion. Sie mag vielleicht vergesslich sein, aber sie ist nicht dumm.
Ich habe einen Kloà im Hals, bemühe mich aber, nicht zu schlucken. Grandma würde mein Unbehagen sofort spüren. »Ja, das wäre lustig.«
»GroÃartig. Du sprichst mit Sienna und ich kümmere mich um den Rest. Das heiÃt, den Film solltet ihr euch selbst aussuchen.«
»Ja, sicher.« Ich nicke wieder und lege » BALKON «.
Grandma lächelt triumphierend, während sie die restlichen Spielsteine zu dem Wort » BESTIMMEN « auslegt. In einer überschwänglichen Geste wedelt sie mit der Hand über dem Spielbrett. »Ich habe gewonnen!«, ruft sie.
Nicht nur beim Scrabbeln, denke ich.
In den nächsten Tagen arbeiten wir in Mrs Jensens Unterricht an unseren Projekten. Ich wünschte, sie würde das nicht erlauben. Dann könnte ich vielleicht einfach einige Diskussionspunkte per E-Mail an Cole senden. Er könnte sie dann an Sienna weiterleiten, und wir müssten bis zum Vortrag nicht miteinander sprechen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass uns eine Englischlehrerin tatsächlich Manhattan Prep bearbeiten lässt, aber wahrscheinlich war Mrs Jensen einfach von der Diskussionsidee begeistert.
Es fällt mir schwer, mit Sienna zusammen zu sein, ohne an alles erinnert zu werden, was wir früher miteinander geteilt haben. Es fällt mir schwer, nicht daran zu denken, wie wir einmal so lachen mussten, dass wir die ganze Cola über ihren Esszimmertisch ausgespuckt haben, oder wie uns ihre Mum zum ersten Mal allein im Einkaufszentrum abgesetzt hat. Ganz erwachsen sind wir uns vorgekommen, als wir unsere Klamotten einkauften â ganz ohne dass uns die Eltern reinredeten.
Wir schieben unsere Tische zusammen und Sienna holt ein mit Eselsohren markiertes Exemplar von Manhattan Prep aus ihrer Tasche. Cole gräbt sein Exemplar aus und legt es auf den Tisch. Er muss es erst kürzlich gekauft haben,
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