Der Kuss der Sirene
Wut.
Mein Mund wird trocken. »Wen?« Bitte sag: Erik!
»Steven. Erik hat gesagt, er müsse mir etwas zeigen. Also folgte ich ihm meilenweit diese gottverlassene KiesstraÃe hinauf. Er weigerte sich, auch nur ein Wort zu verraten, bis wir am See angekommen waren, und dann hörte er gar nicht mehr auf zu reden. Er hat dich eine Sirene genannt. Ich könne deinen Gesang anhören, Cole aber nicht. Ihn würdest du ertränken. Er hat Cole losgebunden und wollte ihm die Kopfhörer herausziehen, damit er dir ins Wasser folgt.«
Eine Welle des Entsetzens überwältigt mich. Erik hatte nicht vor, Cole selbst zu töten.
Ich sollte es tun.
Sienna dreht sich so weit zu mir, dass ihre Beine von der Fensterbank baumeln. Sie ist so klein, dass ihre FüÃe den Boden nicht berühren. »Stevens Tod war kein Unfall. Du hast in umgebracht. Jede Minute muss ich daran denken.«
Ich kämpfe gegen die Tränen. »Sienna, ich habe das nicht gewollt. Ich wusste gar nicht, was ich tat â¦Â«
Sie fährt herum, greift nach einem Wasserglas auf dem Tisch und schleudert es gegen mich. Ich ducke mich gerade noch rechtzeitig â es pfeift direkt an meinem Kopf vorbei, bevor es an der Wand zerschellt. Ich bleibe einen Herzschlag lang auf dem Boden hocken, dann stehe ich mit wackligen Beinen auf.
Das Geheimnis, das die ganze Zeit zwischen uns stand, reiÃt uns jetzt auseinander.
»Du wusstest, wie sehr es mich gequält hat, den Grund seines Todes nicht zu kennen«, schreit sie. »Er war ein guter Schwimmer. Mir war klar, dass die Polizei falschlag.« Dann sagt sie ganz leise: »Ich will nicht mehr mit dir reden. Ich will dich nicht mehr sehen. Du wirst den Englischkurs wechseln. Du wirst dich von meiner Familie, meinen Freunden und meinem Mittagstisch in der Schule fernhalten. Wenn du mich je wieder ansprichst, werde ich allen erzählen, was du bist.«
»Sienna â¦Â«
»Verschwinde! Sofort!« Sie nimmt eine kleine Schmuckkassette vom Tisch, wahrscheinlich um sie mir ebenfalls an den Kopf zu werfen, und ich weiche zurück. Ich reiÃe die Zimmertür mit so viel Schwung auf, dass sie gegen die Wand knallt und dort einen kleinen Abdruck hinterlässt.
Ich renne durchs Haus, stolpere beinahe über einen Vorleger und stoÃe die Eingangstür auf. Meine Kehle brennt von ungeweinten Tränen. Ich schlage die Tür zu, meine Beine drohen, ihren Dienst zu versagen.
Cole kommt mir entgegengeeilt und ich falle ihm in die Arme.
Das Band zwischen mir und Sienna ist zerrissen. Dabei hatten wir es erst neu geknüpft. Ich habe meine beste Freundin für immer verloren. Und ich bin noch viel trauriger als unmittelbar nach Stevens Tod. Denn ich weià jetzt, wie ein Leben ohne Sienna ist. Und dass sie mir nie verzeihen wird, weil sie die Wahrheit kennt.
»Sie hat nicht â¦Â«, beginnt Cole.
»Nein.« Ich schlucke die Tränen hinunter. »Sie hasst mich.«
»Das tut mir leid.« Er umarmt mich, doch ich löse mich sofort wieder von ihm.
»Lass uns einfach hier verschwinden, okay? Lass uns zu dir fahren.«
Ich blicke mich noch einmal kurz um, bevor ich in den Wagen steige, und ich frage mich, ob ich jemals wieder einen Fuà an diesen Ort setzen werde. Wohl kaum. Einer solchen Katastrophe kann eine Freundschaft nicht standhalten.
Ich stehe in Coles Dusche und lasse heiÃes Wasser über meine Haut laufen. Nach dem Kampf mit Erik bin ich mit blauen Flecken übersät und jeder Knochen tut mir weh. Wenn ich könnte, würde ich die ganze Nacht hier verbringen.
Als ich mit einem Stück Seife über meine schmerzenden Rippen schrubbe, zucke ich zusammen. Es kommt mir vor, als hätte man mich stundenlang in einem Wäschetrockner herumgewirbelt. Ich drehe den Duschhahn zu, trockne mich ab und schlüpfe in das T-Shirt und die Boxershorts, die Cole mir geliehen hat. Ich kämme mein Haar, bis meine Locken von selbst wieder zum Vorschein kommen. Nicht mal ein Mordversuch kann mein Haar ruinieren.
Vergeblich versuche ich mich im Spiegel wiederzuerkennen. Gestern Nacht haben sich so viele Dinge geändert.
Ich habe zum zweiten Mal getötet. Als Erik vorgab, mich zu lieben, wusste ich, dass ich ihn verlassen musste. Aber ich hatte nie vor, ihn zu töten. Ich halte mich am Rand des Waschbeckens fest und schlieÃe die Augen, weil ich meinen eigenen Anblick nicht länger ertragen kann. Notwehr oder
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