Der Kuss des Anubis
kein Grabräuber. Das ist mir inzwischen klar geworden. Jemand muss ihm das Amulett untergeschoben haben.«
Miu sah sie erstaunt an. »Wie kommst du auf einmal darauf?«, fragte sie.
»Ich war zornig und enttäuscht über ihn«, sagte Sadeh. »Und nur deshalb so hart. Ramose hat in einer bestimmten Sache nicht so reagiert, wie ich mir das vorgestellt hatte. Inzwischen denke ich, dass ich ihn wohl zu sehr bedrängt habe. Dein Vater hasst es, mit dem Rücken an der Wand zu stehen, so war er schon immer. Daran hätte ich mich rechtzeitig erinnern sollen.«
»Ich bin froh, dass du das sagst!«, rief Großmama. »Ramose ist kein schlechter Mann, auch wenn er sich in früherer Zeit nicht immer für den geraden Weg entschieden hat. Inzwischen weiß ich genug über ihn, um das behaupten zu können.«
»Du kennst ihn besser, als ich ihn jemals gekannt habe«, sagte Sadeh leise.
»Es wäre an dir gewesen, das beizeiten zu ändern, Tochter«,
antwortete Raia. »Gebe Amun, dass deine Einsicht jetzt nicht zu spät kommt!«
Sadehs dichte Brauen schoben sich bedenklich zusammen. Miu befürchtete schon einen erneuten Zornesausbruch, als Anuket plötzlich mit einem Besucher im Hof erschien.
»Ich hätte eher kommen sollen, ich weiß!« Ipi verneigte sich in alle Richtungen. Er trug einen steifen, neuen Schurz und hatte sich offenbar von Kopf bis Fuß eingeölt, denn er glänzte im Sonnenlicht wie eine Speckschwarte. »Doch ihr glaubt nicht, was ich alles am Hals habe, seitdem sie unseren armen Meister verhaftet haben!«
Miu hatte sich bei seinem Anblick abrupt verschlossen. Sie war sogar hinter die sitzende Sadeh getreten, als suche sie deren Schutz.
»Tatsächlich haben wir dich früher erwartet«, sagte Sadeh. Ihre Haltung war kerzengerade, die Miene undurchdringlich, sie war unverkennbar die Tochter ihrer Mutter Raia. »Uns in dieser heiklen Situation so lange im Ungewissen zu lassen, war reichlich unverschämt von dir.«
»Was hätte ich tun sollen?« Ipi legte sein grobes Gesicht in Falten, ein vergeblicher Versuch, treuherzig zu wirken. »Die Soldaten haben unsere Werkstatt in einen Schutthaufen verwandelt. Den Männern und mir blieb nichts anderes übrig, als erst einmal wieder halbwegs für Ordnung zu sorgen - und das hat nun mal einige Zeit gedauert! Sollten vielleicht die Kunden etwas davon mitbekommen? Wir müssen doch auch an die Zukunft denken, das vor allem!« Die leidenschaftliche Rede schien ihn erschöpft zu haben. Mit einem Leinentuch, das er aus seinem Gürtel zog, tupfte er sich den Schweiß ab.
»Was soll das heißen?«, fragte Raia barsch. »Und antworte gefälligst deutlich - nicht wieder in tausenderlei Ausflüchten!«
»Aber gerne doch!« Ipi hatte sich Miu zugewandt, die ihn jedoch feindselig anstarrte. »Du kennst meine Gefühle, Mutemwija«, sagte er. »Nicht zum ersten Mal offenbare ich sie dir heute, doch das ist es mir wert. Ich liebe und begehre dich. Willst du meine Frau werden?«
»Bist du verrückt geworden?« Miu wich zurück. »Nein und noch mal nein! Lass mich endlich damit in Ruhe!«
Erstaunlicherweise gelang es Ipi, äußerlich ruhig zu bleiben. Nur das leichte Zittern seiner klobigen Hände verriet die innere Erregung.
»Dein Vater ist verhaftet worden und muss möglicherweise bald sterben. Was soll dann aus der Werkstatt werden? Du bist kein Mann und kannst sie nicht weiterführen. Ich aber könnte es durchaus - an deiner Seite, als dein treu sorgender Gatte …«
»Diese Überlegungen kannst du ruhig uns überlassen«, sagte Sadeh kühl. »Mein Mann ist kein Grabräuber und seine Unschuld wird sich herausstellen. Unsere Familie pflegt Probleme auf eigene Art und Weise zu lösen, also misch dich gefälligst nicht ein. Hast du außerdem gehört, was meine Tochter eben gesagt hat? Miu will dich nicht! Sie wird dich niemals heiraten. Belästige sie also nicht weiter.«
Wie ein schläfriges Reptil wandte Ipi sich von Miu ab und sprach nun direkt ihre Mutter an.
»Das hat dein Mann aber ganz anders gesehen«, sagte er. »Der Meister war einverstanden mit unserer Verbindung. Ja, er hat sie sogar ausdrücklich begrüßt.«
»Ramose? Das kannst du jemand anderem weismachen! Ich kenne meinen Mann und weiß, was er an Menschen schätzt und was nicht.« Sadehs Stimme war jetzt hart wie Metall. »Und falls es doch so sein sollte, wie du sagst, dann möchte ich es aus seinem Mund hören.«
»Falls du dazu noch Gelegenheit hast.«
Diese Worte waren Ipi unbedacht entschlüpft. Ein
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