Der Kuss des Anubis
»Vergiss, was ich gerade gesagt habe. Je weniger ihr alle davon wisst, desto besser. Aber Ani geht es gut. Das soll ich euch von ihm ausrichten. Und er wird seine Unschuld beweisen - schon sehr bald.«
»Wie will er das anstellen?«, wollte Sadeh wissen. »Hat er Verbündete, die ihm dabei helfen? Weiß vor allem Taheb schon davon?«
Iset zuckte die Schultern. »Kenamun und er haben offenbar einen Plan ausgeheckt. Mich und das Ungeborene wollen sie allerdings unbedingt raushalten. Deshalb weiß ich nichts Näheres. Und Taheb? Nein, auch sie soll nichts wissen. So möchte es Ani. Für den Fall, dass man sie befragen sollte.«
»Und du glaubst, dieser Plan könnte gelingen?«, schaltete sich nun Raia ein, die bislang nur zugehört hatte.
»Nichts hoffe ich mehr.« Iset sah Miu vielsagend an. »Und zwar keineswegs nur meinetwegen.«
Der spezielle Unterton hatte Mius Neugierde geweckt. »Komm mit!«, sagte sie. »Pau ist inzwischen so dick, dass sie kaum noch laufen kann. Sieht ganz so aus, als hätte sie sich entschlossen, ausgerechnet unter meinem Bett zu werfen.«
Iset folgte ihr, und kaum waren die beiden allein, fragte Miu ohne Umschweife: »Was willst du mir noch sagen?«
»Dass er dich vermisst. Und ständig an dich denkt. Dass er davon träumt, bei dir zu sein«, antwortete Iset.
»Das alles hat Ani gesagt?« Mius Augen hingen an ihrem Gesicht.
»Natürlich nicht! Du kennst ihn doch. Ich hab es trotzdem hinter seiner Stirn gesehen - vor allem aber hab ich es in seinem Herzen gelesen. Und auf diese Sprache verstehe ich mich ganz besonders gut …«
»Ach, Iset!« Miu ließ sich auf das Bett sinken. Schwerfällig kletterte Pau mit ihrem dicken Bauch ebenfalls hoch und schmiegte sich an Miu. »Daran kann ich gerade gar nicht denken. In meinem Kopf wirbeln ganz andere Dinge wild durcheinander.« Miu zögerte kurz, aber irgendjemandem musste sie es doch sagen! »Ipi war vorhin hier und hat mir einen seltsamen Vorschlag unterbreitet.«
»Dieser Widerling?«, rief Iset. »Was könnte einer wie er dir schon vorschlagen?«
»Angeblich hat er Beweise für Papas Unschuld.«
»Und du glaubst ihm?«, sagte Iset.
»Es ist die einzige Möglichkeit, die ich sehe. Oder fällt dir etwas anderes ein? Ipi will, dass ich zu ihm komme. In die Werkstatt, heute Nachmittag. Dort soll ich dann mehr erfahren.«
Iset war so abrupt aufgesprungen, dass die hochschwangere Katze einen erstaunlichen Satz zur Seite machte.
»Das wirst du hoffentlich bleiben lassen! Diesem Ipi traue ich nicht über den Weg. Was, wenn er dich nur dorthin lockt, um dann zudringlich zu werden?«
»Ich werde mich eben vorsehen. Außerdem sind ja noch
die anderen Arbeiter dort.« Miu klang fest entschlossen. »Ich muss versuchen, Papa zu helfen. Siehst du denn nicht, wie traurig und hilflos Mama und Großmama sind? Wir können doch nicht alle untätig herumsitzen und warten, bis er tot ist!«
Iset baute sich vor ihr auf. »Lass es sein, Miu«, bat sie. »Geh nicht zu diesem Ipi! Ich hab kein gutes Gefühl dabei. Willst du nicht lieber den Pharao aufsuchen und ihn bitten, dass er deinen Vater …«
»Da war ich bereits - vergeblich. Weißt du, wie er mich behandelt hat? Wie ein lästiges Insekt! All das frühere Gerede von Freundschaft und Vertrauen! All seine schmelzenden Blicke - vergiss es! Er spielt bloß mit den Menschen. Das ist alles, was er auf seinem goldenen Thron gelernt hat. Inzwischen wünschte ich, ich wäre Tutanchamun niemals begegnet. Aber vielleicht gelingt es mir ja, ihn irgendwann zu vergessen.«
»Glaubst du das wirklich?«, sagte Iset leise. »Ich wünsche es dir.«
»Sieh an, der Händler der Ewigkeit!« Ramose schreckte aus seiner Agonie hoch, als er die bekannte Stimme vernahm. War jetzt seine allerletzte Stunde angebrochen? Aber wieso hatten sie ihn dann aus dem dunklen Loch hinauf in diesen hellen Raum gezerrt, in dem nichts weiter stand als ein Tisch und zwei Hocker? »Wie lange haben wir beide uns nicht mehr gesprochen? Es müssen nahezu neun Jahre sein!«
Verzweifelt versuchte Ramose, im Kauern eine würdigere
Haltung einzunehmen. Doch an Händen und Füßen gefesselt, wie er seit Tagen ausharren musste, wollte es ihm nicht recht gelingen.
Eje kam näher und zog einen Dolch aus seinem Gürtel. Ein Schnitt - und schon waren die Fesseln durchtrennt.
Verblüfft rieb Ramose sich die schmerzenden Gelenke.
»Steh auf und mach es dir bequem!«, forderte Eje ihn auf. »Ich muss mich entschuldigen, dass ich erst jetzt zu
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