Der Kuss des Anubis
bang.
»Dann bist du mein Mann.« Er ließ eine Pause folgen, bevor er fortfuhr. »Ich weiß, dass du die Grabräubereien koordinierst - und das bereits seit Langem. Außerdem hast du dafür gesorgt, dass deine Taschen dabei voller werden als die der anderen Beteiligten. Damit ist es jetzt vorbei. Ab sofort arbeitest du für mich.«
»Was fällt dir ein?«, rief Userkaf. »Ich bin Polizist und würde niemals …«
»Schweig!« Der Mann leckte sich bedächtig die Lippen. »Es gibt zwei Möglichkeiten, unter denen du wählen kannst: Entweder du stirbst, weil ich dich unverzüglich anzeige, sobald ich diese Wache verlassen habe. Alles wird ganz schnell gehen. Du hast im großen Stil Gräber geschändet und beraubt. Du hast die Totenruhe von Königen verletzt. Somit ist dein Leben verwirkt - und unser Gespräch hiermit beendet.«
»Oder?« Userkafs sonst so kräftige Stimme war plötzlich nur noch ein Wispern.
»Du stellst unter Beweis, dass du ein Mann bist, der seine Möglichkeiten zu nutzen weiß. Ohnehin werden sich gewisse Dinge in Kemet sehr bald ändern, wie ich dir versichern kann. Da empfiehlt es sich, beizeiten auf
der richtigen Seite zu stehen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Nein, Herr, aber ich …«
»Du wirst mich sehr bald verstehen, sei unbesorgt! Jedenfalls brauche ich dich heute im Tal der Könige, sobald es dunkel geworden ist. Dazu sechs weitere tüchtige Handlanger, die ebenfalls den Mund halten können, es sei denn, sie legten es darauf an, gehängt oder lebendig an Sobeks hungrige Brut verfüttert zu werden.« Sein ruhiger Tonfall war eine Spur schärfer geworden. »Kann ich mich darauf verlassen?«
»Wir werden da sein«, flüsterte Userkaf. »Die Männer und ich. Wohin genau sollen wir kommen?«
»Zum Grab des großen Ketzers. Jenes Grab, das ihr, wie ich weiß, gründlicher ausgeweidet habt als das Innere einer fetten Ente, auf die der glühende Rost wartet.«
»Was sollen wir tun, Herr?«
»Böse Geister ausräuchern.« Der Mann mit dem Geiergesicht stieß ein bellendes Lachen aus. »Ja, ich glaube, das trifft es wirklich am besten!«
Gegen Mittag stand auf einmal Iset vor der Tür. Mius Freundin war wie üblich mit zwei großen Binsenkörben beladen, die dieses Mal allerdings leer waren.
»Alles verkauft!«, sagte sie zu Miu. »Die Leute sind besorgt. Deshalb steigt die Nachfrage nach Götterfiguren, zu denen sie beten können.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Außerdem hab ich gehört, was mit deinem Vater passiert ist. Da wollte ich auf der Stelle zu euch!«
Miu sah Raia und Sadeh fragend an, und als die beiden nickten, bat sie die schwangere Freundin herein. Anuket setzte ihr kühles Wasser vor.
»Vielleicht stellt sich alles ja als Irrtum heraus«, sagte Iset, nachdem sie getrunken hatte. »Ich hab gelernt, dem Schicksal zu vertrauen. Manchmal kann es die verschlungensten Wege gehen!«
»Im Allgemeinen magst du recht haben. Aber soll ich etwa die Hände in den Schoß legen und abwarten, bis eine höhere Macht mir meinen Mann wieder zurückgibt?«, sagte Sadeh.
»Möchtest du das denn überhaupt?«, fragte Iset. Das war ziemlich dreist, fand Miu, aber auch sie konnte die Antwort kaum erwarten. »Deinen Mann zurückhaben, meine ich?«, fügte Iset noch hinzu.
»Ja«, sagte Sadeh nach einer Weile. »Mehr als alles andere!«
»Dann wird bestimmt alles wieder gut!«, rief Iset. »Du musst nur ganz fest daran glauben.«
»Mein liebes Kind, dein Vertrauen möchte ich haben!« Sadehs Augen glänzten auf einmal, als wären sie feucht.
»Ich werde euch jetzt etwas erzählen, das euch sicherlich trösten wird.« Geheimnisvoll legte Iset den Finger auf die Lippen. »Doch ihr müsst schwören, dass nichts davon diesen Raum jemals verlässt!«
»Sag schon, was los ist!«, verlangte Raia.
»Ani ist geflohen«, sagte Iset. »Er hat es geschafft.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Miu, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Angst. Wenn die Freundin doch nur recht behalten würde - Ani in Freiheit zu wissen, wäre das Allerschönste!
»Weil ich ihn mit eigenen Augen in Freiheit gesehen habe. In gewisser Weise hab ich ihm sogar dazu verholfen. Allerdings nicht so sehr wie Sheribin.« Iset begann zu kichern. »Meine Mutter besitzt wirklich ungeahnte Talente!«
»Ich verstehe kein Wort!«, rief Miu verwirrt. »Was hat das alles zu bedeuten? Und was hat ausgerechnet deine Mutter mit Anis Flucht zu tun?«
Iset war schlagartig wieder ernst.
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