Der Kuss des Anubis
hinzugefügt: »Familientradition. Wie meinen Vater, so zählt man auch mich zu den Spezialisten im Tunnelbau. Gibt so leicht kein Gestein, das mir auf Dauer widerstehen könnte.«
Iset würde auf das Westufer ziehen, in das Wüstendorf, wo alle Handwerker lebten, die im Tal der Könige arbeiteten!
»Was sind schon ein paar Steine gegen unsere Freundschaft?«, murmelte Iset, die Mius Bestürzung sehr wohl mitbekommen hatte, ihr im Vorübergehen zu. »Du kannst mich doch jederzeit besuchen! Dann machen wir uns einen schönen Tag und erzählen uns gegenseitig, was jede in
der Zwischenzeit alles erlebt hat.« Sie lächelte leicht abwesend und war schon beim nächsten Gast angelangt.
»Sie wird dir fehlen«, sagte Ani, der plötzlich neben Miu stand. »Deshalb bist du traurig, was ich gut verstehen kann. Und sie macht sich Illusionen hinsichtlich der Zukunft, aber wer wollte ihr das ausgerechnet heute sagen?«
»Was meinst du damit?« Wie lange mochte er Miu schon beobachtet haben?
»Die Arbeiter am Ort der Weisheit , wie man die Nekropole auch nennt, werden gut entlohnt und üppig versorgt mit allem, was sie zum Leben brauchen. Allerdings umschließt das Wüstendorf eine hohe Mauer mit zahlreichen Kontrollstellen. Und es ist ebenso kompliziert, hinaus- wie hineinzugelangen. Ein goldener Käfig, wenn du so willst. Allerdings einer mit sehr engen Stäben.«
»Dann wird Iset ab heute eine Art Gefangene sein?«, fragte Miu und schaute mit leiser Beklommenheit zu ihm auf.
Es gab offenbar kein Mädchen und keine Frau, der Anis Herz gehörte, sonst hätte er sich wohl kaum mit ihrer Begleitung begnügt. Dabei war es bis zum letzten Moment ungewiss gewesen, ob sie überhaupt würde gehen können. Ohne Raias tatkräftige Unterstützung säße sie garantiert noch immer in ihrem Zimmer fest. Großmama hatte Papas Wiederkehr zum Anlass genommen hatte, ihm alles, was in seiner Abwesenheit geschehen war, auf so dramatische Weise zu erzählen, dass er augenblicklich zur Werkstatt aufgebrochen war, um dort selber nach dem Rechten zu sehen. So war er also gar nicht im Haus gewesen, als Ani gekommen war, um Miu abzuholen.
»Zwei Tage bleiben ihr noch«, sagte Ani jetzt. »Dann
soll Kenamuns neues Haus endlich fertig sein. Sonst hätten sie sicherlich schon heute dort gefeiert.«
Wie kühl Ani klang, kühl und seltsam abgeklärt! Als ob ihn alles rundherum langweile - die Hochzeit, der Umzug. War das alles nichts als überflüssiger Weiberkram in seinen Augen?
Womöglich war es ihm lästig, auf eine jüngere Verwandte aufzupassen, und vielleicht lag ihm überhaupt nichts an Familie. Seine Mutter jedenfalls hatte er zwar freundlich, aber nur kurz begrüßt; seinen Vater dagegen, der von Sheribin mit immer neuen Leckerbissen geradezu malträtiert wurde, schien er gänzlich zu ignorieren. Eigentlich hatte Miu ihn noch fragen wollen, was sein Vorgesetzter über den toten Warzenkerl gesagt hatte. Und wie man es am besten anstellen könnte, den Mann mit dem Geierprofil ausfindig und unschädlich zu machen. Seine seltsame Teilnahmslosigkeit schreckte sie jedoch ab.
»Komm schnell mit!« Sheribin, die Wangen hochrot vor Aufregung, zupfte sie am Kleid und zog sie mit sich. »Jetzt geben sie sich gleich das Versprechen.«
Kenamuns Vater, dessen rechtes Bein seit einem Unfall im Tal der Könige vor einigen Jahren lahm war, legte die Hände der jungen Leute ineinander. Seine Frau benetzte die Füße des Brautpaares mit Nilwasser, auf dass der Gott Hapi ihnen Reichtum und Fruchtbarkeit schenken möge. Sheribin reichte den beiden ein Stück Gebäck, dick in Salz gewälzt, von dem sie nacheinander abbissen, damit sie bei allem Glück auch die Tränen nicht vergaßen.
Auf einmal wurde es sehr ruhig in dem kleinen Innenhof. Sogar das Quieken der Ibisse vom nahen Fluss war verstummt.
»Du bist meine Gattin.« Kenamuns Stimme war laut, aber etwas zittrig. »Dich will ich lieben und ehren, solange ich lebe.«
»Du bist mein Gatte«, sagte Iset fröhlich. »Dich will ich lieben und ehren, solange ich lebe.«
Klatschen erklang, Becher wurden erhoben, Taheb wischte sich die Augen trocken. Bevor die allgemeine Rührung überhandnehmen konnte, sorgten Isets freche kleine Brüder für Abwechslung, indem sie den größten Bierkrug umstießen, der prompt vom Tisch fiel, in Scherben zersprang und dabei die Nächststehenden nass spritzte.
Die beiden Familien hatten zusammengelegt und alles aufgefahren, was Küche und Keller zu bieten hatten: Enten,
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