Der Kuss des Anubis
zu fassen schien. »Viele Verbrecher verschwinden im Nil. Kein Hahn kräht jemals mehr nach ihnen.«
Er kratzte sich am Kinn.
»Der Pharao muss jedenfalls umgehend über diesen Fund informiert werden. Ich werde mit meinem Vorgesetzten reden. Userkaf ist ein kluger, besonnener Polizist mit langjähriger Erfahrung, die er nicht nur in Waset, sondern früher auch in Mennefer* sammeln konnte. Er wird wissen, was zu tun ist.«
Seine Hand war unwillkürlich zum Dolch gefahren, was Miu beklommen machte. Dem Schlachtgetümmel in Kusch
war Ani entronnen, doch auch hier lauerten Tag für Tag Gefahren auf ihn, das wurde ihr mit einem Mal bewusst.
»Was wird nun aus ihm?«, sagte sie und deutete auf das Gebäude, wo die entstellte Leiche lag, neben der sie ohnmächtig geworden war.
»Ich lasse ihn im Wüstensand verscharren«, mischte Ipi sich ungebeten ein. »Für einen wie ihn wäre selbst der Einsatz von Zedernöl, das ihm die inneren Organe zersetzt, um den Körper dauerhaft haltbar zu machen, die reinste Verschwendung«, sagte er mit einem fetten Lachen. »Kann mir schwerlich vorstellen, dass jemand bereit wäre, für diesen räudigen Köter auch nur die Kosten einer Balsamierung dritter Klasse zu übernehmen!«
»Und seine Seele?« Es war Miu einfach so entschlüpft.
»Überlass das ruhig dem Totengericht*«, sagte Großmama. »Die Waage der Maat* trifft die rechte Entscheidung. Das Herz eines Mannes, der so große Schuld auf sich geladen hat, wiegt schwerer als ein Felsbrocken. Auf ihn wartet die Totenfresserin*.«
Sie klang mit einem Mal so unerbittlich, dass sowohl Ani als auch Miu sie erstaunt anstarrten. Als Raia das spürte, schien sie sich einen Ruck zu geben und wie aus weiter Ferne zurückzukommen.
»Wir sollten uns angenehmeren Themen zuwenden«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Außerdem sterbe ich vor Hunger. Willst du nicht mit uns Mittag essen, Ani, bevor du zur Wache zurückkehrst?«
»Keine Zeit, leider«, sagte er rasch, ohne Miu anzusehen. »Ich will Userkaf so schnell wie möglich über den Stand meiner Ermittlungen in Kenntnis setzen. Ein anderes Mal vielleicht.«
Raias Blicke gingen zwischen ihm und Miu hin und her. Miu versuchte, ein Gesicht zu machen, als ob es ihr leidtäte.
»Dann begleite unsere Kleine doch wenigstens zu Isets Hochzeit«, sagte sie und schien sich nicht darum zu kümmern, dass Miu plötzlich zu Boden stierte. »Sie möchte so gerne dorthin, das hat sie mir gestanden. Übermorgen. Am späten Vormittag. Passt dir das? Am Neujahrstag hast du doch bestimmt frei.«
»Meinetwegen. Es sei denn, es käme etwas dazwischen. Womit man in meinem Beruf leider immer rechnen muss.« Seine unbewegte Miene verriet nichts über seine Empfindungen.
Ipis Gesicht dagegen wurde aschfahl, weil ihm ganz und gar nicht zu gefallen schien, was er soeben gehört hatte, während Miu und Großmama sich zum Gehen wandten.
»Und jener Kerl dort unter dem Tuch?«, stieß er hervor. »Der uns nicht einen Deben einbringen wird, dafür aber jede Menge Scherereien? Können wir ihn endlich loswerden? Ich hab nämlich Wichtigeres zu erledigen, bevor der Meister zurückkommt!«
»Nicht so eilig!« Anis Stimme war kalt. »Der Pharao wird ganz genau wissen wollen, wer dieser Kerl ist. Du rührst ihn mir nicht an, bis Userkaf hier war, verstanden? Sonst könntest du selber das Segel der nächtlichen Barke schneller zu sehen bekommen, als dir lieb ist!«
»Du drohst mir?«, sagte Ipi lauernd. »Das solltest du dir noch mal gut überlegen!«
»Ich mache nur meine Arbeit. Das ist alles«, erwiderte Ani.
Er sah so grimmig dabei aus, dass Miu ihn erstaunt musterte.
Sie wusste ja, dass er Ipi nicht mochte. Doch seine Abneigung gegen den Gehilfen ihres Vaters schien in letzter Zeit noch beträchtlich gewachsen zu sein.
Die Braut trug ein neues weißes Kleid, das breite Streifen auf der linken Schulter zusammenhielten. Ihren Hals schmückte ein Blütenkragen, Hände und Füße waren mit Hennaornamenten bemalt. Ihre Haut glänzte, denn man hatte sie sorgfältig eingeölt. Bunte Bänder zierten das schwarze Haar. Sie strahlte über das ganze Gesicht und ihre Augen leuchteten vor Freude.
Mius Hals wurde eng, als sie die Freundin erblickte.
Inzwischen wusste sie, welcher Tätigkeit Kenamun nachging, ein stattlicher junger Mann mit kräftiger Nase und einem warmen Lächeln, der ihr auf Anhieb gefallen hatte.
»Ich bin einer aus dem Wüstendorf«, hatte er ihr erklärt und mit unüberhörbarem Stolz
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