Der Kuss des Anubis
»Und du weißt bereits, dass der Warzenkerl tot ist.«
Tutanchamun starrte sie an wie eine Erscheinung. »Tot?«, wiederholte er. »Wieso tot? Und wer ist dieser Userkaf?«
Der König hatte offenbar nicht die geringste Ahnung! Wieso hatte ihn keiner seiner Leute informiert?
Eine Erkenntnis, die Miu schwindelig machte. Fieberhaft suchte sie nach den richtigen Worten.
»Sie haben den Leichnam des Warzenkerls aus dem Fluss gezogen«, sagte sie. »Und anschließend in der Werkstatt meines Vaters aufgebahrt. Ich hab ihn anschauen müssen und sofort wiedererkannt - er ist es, kein Zweifel. Es ist der Mann, der jenen schrecklichen Satz über dich gesagt hat.« Sie schluckte. »Krokodile haben seine Hand gefressen. Die rechte. Ani, mein Cousin, ein junger Polizist, hat ihn untersucht. Sein Vorgesetzter sollte dich über alles informieren. So hatten wir es eigentlich vereinbart.«
Tutanchamun hatte sich abgewandt.
»Die Schlange«, hörte sie ihn murmeln. »Sie war in einem Kästchen versteckt, um mich zu töten. Genau wie bei meiner Mutter. Rötlich mit schwarzen Schuppen - hätte deine Warnung mich nicht misstrauisch und vorsichtig gemacht, dann wäre ich jetzt womöglich tot. Deshalb wollte ich dich sehen, Miu. Um dir zu danken, denn du hast mir das Leben gerettet.«
Stolz und Freude erfüllten sie. Es war gut, dass sie so aufmerksam gewesen war und in ihrem Misstrauen nicht nachgelassen hatte!
Er schüttelte den Kopf.
»Von den Dingen, die du gerade angesprochen hast, weiß ich nichts. Aber meine Hofbeamten haben sich der Sache bestimmt schon angenommen. Schade nur, dass jener Kerl nicht mehr lebt. Ich hätte gerne dafür gesorgt, dass sein Ende mit unvorstellbaren Qualen verbunden gewesen wäre.«
Miu wurde kalt, als sie ihn so reden hörte. Aber hatte sie dazu überhaupt das Recht? Er war der König. Ihm gehörte das Land und alles, was darauf wuchs, das Volk und jedes Tier. Sein Wort und sein Handeln durfte niemand infrage stellen. Und trotzdem wünschte sie sich in diesem Moment wieder jenen anderen Pharao zurück, der ihr so viel besser gefallen hatte.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie. »Bitte gestatte mir das, mein König, du mögest leben, heil und gesund sein! Zu Hause machen sie sich bestimmt längst Sorgen um mich. Und wenn mein Vater erfährt, dass ich …«
Sie hatte sich nicht nur heimlich zu Isets Hochzeit weggeschlichen, sondern war von dort auch noch von der königlichen Leibgarde abgeführt worden wie eine Verbrecherin - nicht auszudenken, wie Ramose darauf reagieren würde!
»Ich werde dich heimbringen lassen. Aber du musst versprechen wiederzukommen, Miu. In drei Tagen. Es gibt nichts Schöneres, als in einer Barke auf dem Wasser zu segeln, das müsstest du doch eigentlich wissen«, sagte Tutanchamun. Und als er ihren fragenden Blick sah, fügte
er noch hinzu: »Mut*-in-ihrer-Barke - Mutemwija, das bedeutet doch dein Name!«
Ani war ihnen bis zum Palast gefolgt, in dem die Bewaffneten mit Miu verschwunden waren, aber natürlich gab es für ihn keinen Einlass. Die vergebliche Mühe, an das Tor zu schlagen, hatte er sich nach einigem Nachdenken erspart. Und als er noch eine Zeit lang unschlüssig vor dem großen Tor wartete, kamen bald einige Männer der Wache heraus und forderten ihn auf unmissverständliche Weise zum Gehen auf.
Aus Rücksicht auf seinen Beruf gehorchte er, wenngleich schweren Herzens. Es war alles andere als einfach gewesen, mit dem versehrten Bein überhaupt eine Anstellung zu bekommen, und wäre er im Feldzug nach Kusch nicht mit der Silbernen Fliege der Tapferkeit ausgezeichnet worden, so hätte es sicherlich noch schlechter für ihn ausgesehen.
Doch das Glück war ihm hold gewesen: Bei den Medjai, die für den Fluss und die Hafenanlagen zuständig waren, hatte Personalmangel geherrscht, und so war es ihm gelungen, dort unterschlüpfen. Die Arbeit gefiel ihm, wenngleich unter den Kollegen ziemlich raue Sitten herrschten und der Druck von oben unaufhaltsam zunahm, weil immer öfter Gerüchte über eine Welle von Grabräubereien die Runde machten. Zwar waren eigentlich andere Polizisten für die Sicherheit der Gräber im Tal der Könige zuständig, aber sie alle waren angehalten, zusammenzuarbeiten und die Diebe schnellstmöglich zur Strecke zu bringen.
Ani rieb sein linkes Bein, das immer dann Schwierigkeiten machte, wenn er es zu stark belastete oder sich zu sehr aufregte.
Was sollte er Raia sagen?
Dass sein Schutz für Miu leider nicht ausgereicht habe?
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