Der Kuss des Anubis
seinen Unmut.
»Da seid ihr ja«, rief er. »Endlich! Hätte es nicht ein bisschen eher sein können? Der übereifrige Polizist bringt mir nämlich schon den ganzen Morgen alles durcheinander. In diesen drückenden Tagen sterben die Leute wie die Fliegen. Und natürlich soll alles immer ganz schnell gehen, als
ob wir hier zaubern könnten! Aber der Meister kann sich auf mich verlassen, in allem, das kannst du ihm bei Gelegenheit gerne ausrichten!«
»Wo ist Ani?« Großmama gab sich keinerlei Mühe, ihre Abneigung gegen diesen Wichtigtuer zu verbergen.
»Drinnen.« Ipi machte eine knappe Kopfbewegung. »Er wollte sich unbedingt allein umsehen. Obwohl ich ihm ausdrücklich gesagt habe, dass …«
»Du wartest hier«, sagte Raia zu Miu. »Ich gehe ihn holen.«
Ipi nutzte die günstige Gelegenheit, um sie ungeniert anzustarren. Früher hatte Miu ihn ganz in Ordnung gefunden. Das heißt, eigentlich hatte sie ihn nicht weiter beachtet, weil er ihr herzlich gleichgültig gewesen war, aber sie hatte sich von seinen Blicken auch nicht gestört gefühlt. Doch diese Zeiten waren leider vorbei, denn jetzt ahnte sie, welche Gedanken in seinem breiten Schädel kreisen mochten.
Er war heftigst entflammt.
Und offensichtlich war ausgerechnet sie das Objekt seiner Begierde. Dass sie die Tochter des Mannes war, dem hier alles gehörte, machte die Angelegenheit nur noch vertrackter. Sie als Ehefrau zu gewinnen und eines Tages die florierende Werkstatt noch obendrauf - so und nicht anders sahen Ipis kühnste Pläne aus.
»Wir müssen dringend reden, du und ich«, hörte sie ihn flüstern. »Ungestört! Es ist nicht so, wie du glaubst. Vielleicht denkst du ja, ich sei nur ein dahergelaufener Niemand, aber da täuschst du dich …«
»Miu?« Raias ruhige Stimme - die Erlösung! »Kommst du? Ani möchte dir etwas zeigen.«
Mit hochgezogenen Schultern ging Miu hinein. Schon an der Schwelle hielt sie vorsorglich den Atem an, das hatte sie sich bei ihrem letzten Aufenthalt geschworen. Der Kuss des Anubis, der die Menschen ins Totenreich zwang, ließ sie schon nach einigen Stunden nicht gerade duften wie ein Blumenbukett. Garantiert war das der Grund für Papas strenge Ordnungs- und Sauberkeitsgebote, von denen er niemals abrückte. Deren Einhaltung verlangte er auch von den Menschen, die für ihn tätig waren.
Wer nicht parierte, flog. Und zwar unverzüglich.
Der Tote lag auf einem der steinernen Tische; ein verblichenes, mehrfach geflicktes Leintuch über ihn gebreitet, das ihn von oben bis unten verhüllte. Am Kopfende des Tisches stand Ani, mit dunklem Bartschatten und Augenringen, und sah so erschöpft aus, dass er Miu auf Anhieb leidtat.
»Ich hätte es dir gern erspart«, sagte er anstatt einer Begrüßung. »Aber es geht leider nicht anders. Ich fürchte nämlich, du hast doch recht gehabt. Halte dir das hier vor die Nase und komm näher!«
Miu nahm das vorbereitete Tuch und tat, was er verlangt hatte. Raia, ebenfalls mit einem provisorischen Schutz vor Mund und Nase, nickte ihr aufmunternd zu.
»Schau ihn dir ganz genau an«, fuhr Ani fort. »Und dann sag mir, ob du ihn kennst. Es ist wichtig, dass du dir ganz sicher bist. Also lass dir ruhig Zeit.«
Er schlug die Bedeckung zurück.
Mius Blick flog über den Toten und eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen. Sein Gesicht war gedunsen und fleckig, die Haut teilweise grünbräunlich verfärbt. Tiefe Kratzspuren zogen sich über die linke Wange. Er wirkte
fremd und um Jahre gealtert - aber da war sie, ganz eindeutig, die Warze neben dem rechten Nasenflügel, an der sie ihn immer und überall wiedererkannt hätte!
»Das ist er«, sagte sie mit ihrer winzigsten Stimme. »Der Warzenkerl. Ich bin mir ganz sicher.«
Ani begann, die Leiche wieder zuzudecken. Allerdings geriet ihm das große Tuch zu weit nach links, verfing sich, rutschte nach unten und entblößte dabei den oberen Teil der rechten Körperhälfte.
Miu stieß einen Laut des Erschreckens aus.
Der Warzenkerl hatte keine Hand mehr. Da, wo sie einmal gewesen war, gab es nur noch ein hässliches Durcheinander aus zerfetzter Haut, freiliegenden Sehnen, Muskeln und Knochensplittern!
Sollte jemand seine verbrecherischen Hände dabei im Spiel gehabt haben, so werde ich sie ihm abschneiden lassen …
Plötzlich glaubte sie, die zornige Stimme des jungen Pharaos zu hören, so klar und deutlich, als stünde er neben ihr!
Ani hatte seinen Fehler bemerkt und die Leiche rasch wieder verhüllt.
»Die hungrigen Kinder
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