Der Kuss des Anubis
schien nichts dem Zufall überlassen zu haben. Unter dem Schatten spendenden Baldachin war eine Liegestatt mit üppigen Kissen vorbereitet sowie ein schwarz-weißes Spielbrett. Im hinteren Schiffsbereich hockten zwei junge, stark geschminkte Nubierinnen, die Miu freundlich anlächelten, in ihrem Rücken die unvermeidlichen Leibwächter, statuengleich.
»Deine Dienerinnen für diesen Tag. Jeden Wunsch sollen sie dir von den Augen ablesen.«
Sie hatte keinen Blick für die Obstkörbe und Weinkrüge, die neben den Dienerinnen aufgebaut waren, denn plötzlich war er Miu so nah, dass es ihr die Sprache verschlug. Der Pharao, im schlichten weißen Schurz und bis auf einen goldenen Schlangenreif am Oberarm schmucklos, schien sich von Kopf bis Fuß mit einem würzigen Öl eingerieben zu haben, das bei der allerkleinsten Bewegung in ihre Nase drang.
Deine dunklen Brauen wachsen langsam nach … Das war es, was Miu dachte, um sich von dieser beunruhigend vitalen Gegenwart abzulenken. Höchste Zeit, dass du eine neue Feuerkatze bekommst! Eigentlich wollte ich sie dir ja schon heute mitbringen, aber die Kleine hatte sich im letzten Moment unsichtbar gemacht, so gründlich und unauffindbar, wie allein Katzen es vermögen.
Seine Augen waren auf sie gerichtet, fragend und fordernd zugleich, als gäbe es außer ihr nichts anderes auf der Welt.
Miu schluckte und schluckte und versuchte, dieses eine Wort zu sagen, doch ihre Zunge weigerte sich zu gehorchen. Zum Glück gelang es ihr schließlich doch.
»Danke«, flüsterte sie. »Danke!«
Taktvoll überging Tutanchamun ihre Verlegenheit.
»Lust auf eine Partie Senet?«, sagte er, während sie durch das grünliche Wasser glitten. »Du kennst das Spiel?«
Jetzt hätte Miu fast laut aufgelacht, was ihr half, sich wieder halbwegs zu fassen.
»Ein wenig«, sagte sie.
Großmama hatte sie von klein auf im Senet-Spiel unterwiesen und im Lauf der Jahre zu einer regelrechten Meisterin ausgebildet. Er würde schnell zu spüren bekommen, mit welcher Gegnerin er sich da eingelassen hatte, wenngleich sie noch niemals zuvor auf einem so kostbaren Brett gespielt hatte, wo die Felder mit Elfenbein und Onyx eingelegt waren, während die einfachen Leute sich damit begnügten, ein Spielfeld in die Erde zu ritzen!
»Du bist mein Gast und darfst die Farbe wählen.«
»Weiß«, sagte Miu sofort. Weiß, das ihr immer am meisten Glück gebracht hatte!
»Und wie viele Steine - drei?«, fragte der Pharao.
»Sieben«, erwiderte Miu, und es gefiel ihr, dass diese Antwort eine strenge Falte zwischen seinen Brauen hervorzauberte.
»Du fängst an!«
Sie nahm die Stäbchen, die feinsten und am sorgfältigsten polierten, die sie jemals in der Hand gehabt hatte, und warf sie. Kein schwarzes Stäbchen, aber vier weiße, was die Höchstzahl bedeutete: Wahrlich kein schlechter Auftakt!
»Fünf«, sagte Miu vergnügt und zog.
Tutanchamun schien verblüfft, blieb aber stumm. Allerdings brachte er nur eine kümmerliche Eins zustande. Miu warf als Nächstes dreimal hintereinander eine Drei, dann zweimal eine Fünf, während er hartnäckig stets nur niedrige Nummern erzielte.
»Ihr hattet vorhin Streit«, sagte er zwischendurch. »Deine Großmutter und du. Worum ging es?«
Das hatte er bemerkt?
Um dich, wollte Miu eigentlich hervorstoßen. Weil Großmama nämlich befürchtet, ich könnte in deinem Harim landen und damit den Zorn der Großen Königlichen Gemahlin auf mich ziehen, während ich ihr versichert habe, dass ich sehr wohl auf mich aufpassen kann.
»Ach, wir haben in gewissen Dinge manchmal eben unterschiedliche Auffassungen, meine Großmutter und ich«, sagte sie stattdessen. »Sie will, dass …«
»Jetzt lügst du, Miu«, unterbrach er sie. »Lass es lieber sein! Es passt nicht zu dir.«
Wortlos starrte sie ihn an. Etwas in seinem Blick sagte ihr, dass sie vorsichtig sein musste. Außerdem hatte seine Antwort sie verstummen lassen. Schließlich nickte sie nur und Tutanchamun schien damit bereits zufrieden.
»Worum spielen wir eigentlich?«, sagte er nach einer Weile. »Um einen Kuss?«
Ihr Vorsprung war bereits so groß, dass sie sich sehr sicher fühlte.
»Warum nicht?«, erwiderte sie leichthin, während ihr Herz aber schneller zu schlagen begann.
Und nun wendete sich plötzlich das Blatt. Ob Tutanchamun sie hinsichtlich seiner spielerischen Qualitäten zunächst hinters Licht geführt hatte oder ob das Glück ihm
jetzt plötzlich hold war - jedenfalls warf er nun stets genau die
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