Der Kuss des Anubis
flog zur Türe.
Er war nach wie vor allein, und das Geräusch, das ihn eben erschreckt hatte, war nichts anderes als ein vorwitziger Windstoß, der draußen Sand und ein paar Steine aufgewirbelt und gegen das Holz geschlagen hatte.
Langsam drehte er den Herzskarabäus um.
Die Zeichen waren winzig klein; er musste ihn ganz nah an seine Augen halten, um das Eingravierte überhaupt lesen zu können. Wie gewohnt begann Ramose auf der linken Seite.
Das Herz meiner Mutter, steh nicht gegen mich auf als Zeuge, tritt mir nicht entgegen im Gerichtshof…
Der Spruch stammte aus dem Totenbuch!
Er las auf der rechten Seite weiter, und plötzlich war es, als rissen scharfe Krallen an seinem Herzen.
Ach-en-Aten - der, der dem Aton nützlich gewesen ist …
Das konnte, das durfte nicht sein!
Ramose ließ den Karneol los, als hätte er sich daran verbrannt. Hilflos schaute er sich um, da entdeckte er unter dem nächsten Amulett ein zerfranstes Stück Papyrus, das offenbar bislang seiner Aufmerksamkeit entgangen war.
Er zog es hervor. Beim Lesen weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.
Erkenne dein Verbrechen an, sonst wird etwas Schreckliches geschehen!
Der Myrrheduft war so stark, dass er nach Luft rang. Ramose packte das Räuchergefäß, öffnete die Türe und schleuderte es nach draußen. Dann sank er auf die Kiste und presste die Hand auf sein wild schlagendes Herz.
Was war, ist vorbei und vergessen - so hatte sein Wahlspruch gelautet, und er war gut damit gefahren. Die Vergangenheit war tot und für alle Zeiten begraben. Er hatte viel riskiert und dafür den höchsten Preis bezahlt - den Verlust seiner Frau, an die Miu ihn jeden Tag mehr und mehr erinnerte.
Doch nun hatte der blutrote Herzskarabäus alles, was
hinter ihm lag, mit einem Mal zu neuem, hässlichem Leben erweckt. Beinahe hätte Ramose laut aufgeschluchzt. Denn was die heiligen Zeichen auf dem Stück Papyrus von ihm verlangten, konnte und durfte er nicht erfüllen.
Doch wenn er sich weigerte, was dann?
»Meister?« Das war Ipis Stimme hinter der Tür! »Die Herrschaften sind eingetroffen und warten schon eine ganze Weile auf dich. Sie wollten mit dir das Holz für den Sarkophag aussuchen …«
»Erledige du das an meiner Stelle!«, rief Ramose und schämte sich, wie zittrig seine Stimme klang. »Zeig ihnen die Holzsorten. Aber bleib hart, wenn sie zu feilschen versuchen. Qualität hat nun mal ihren Preis!«
»Aber sie wollen unbedingt mit dir persönlich verhandeln! Was soll ich ihnen sagen?«
»Dann stimm sie um. Wozu hab ich dir jahrelang alles beigebracht? Ich kann hier gerade nicht weg.«
»Alles in Ordnung?« So schnell ließ Ipi sich nicht abschütteln. »Du klingst auf einmal so merkwürdig. Bist du krank, Meister? Oder brauchst du Hilfe? Du weißt doch, ich stehe jederzeit für alles bereit!«
»Nein«, rief Ramose so laut und bestimmt, wie es ihm nur irgend möglich war. »Ich will bloß meine Ruhe. Geh an die Arbeit!«
Zäh wie flüssiges Blei waren die Tage bis zum Opet-Fest* verstrichen, und manchmal war es Miu vorgekommen, als wäre die Zeit einfach stehen geblieben.
Keine Nachricht vom Palast, nicht eine einzige.
Inzwischen erschien ihr alles, was auf dem künstlichen See geschehen war, wie ein Traum, der immer blasser wurde, je mehr sie sich bemühte, die Erinnerung daran festzuhalten.
Aber er hat mich geküsst, dachte sie in einer Art trotzigem Aufwallen. Tutanchamun, Pharao und Gott des Schwarzen Landes! Seine Lippen haben die meinen berührt!
Doch sooft sie es sich auch vorsagte, wahrer fühlte es sich trotzdem nicht an. Vielleicht lag es ja auch an Großmamas Krankheit, die auf das ganze Haus einen Schatten geworfen hatte. Zum ersten Mal wurde Miu bewusst, dass Raia sie eines nicht zu fernen Tages verlassen könnte.
Sie zählt schon viele Jahre, dachte Miu. Sie kann sterben, so wie auch meine Mutter gestorben ist. Dann bin ich mit Papa ganz allein!
Der Sturz ins Wasser, der schon zwei Wochen zurücklag, war Raia nicht bekommen. Sie, die sich bislang nie auch nur die kleinste Schwäche erlaubt hatte, begann plötzlich zu husten und klagte über Schmerzen in der Brust. Bald darauf kam das Fieber, zwang sie ins Bett und erschöpfte sie über Tage hinweg dermaßen, dass Ramose schließlich persönlich ins Lebenshaus ging und mit einem Sunu, wie die Ärzte in Kemet hießen, zurückkam.
Der Sunu untersuchte die Kranke lange und eingehend.
»Ich kann dir mein Spezialmittel aus Feigen, Datteln, einer Prise Anis und Honig
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