Der Kuss des Anubis
über ihr Gesicht, dann wurde sie schnell wieder ernst. »Gut, dass du kommst! Ich hatte schon überlegt, dich aufzusuchen, aber dann …« Ihre Arme sanken kraftlos herab.
»Was ist hier eigentlich los?«, fragte er.
»Das wüsste ich allerdings auch gern!« Sie bot ihm einen Hocker an und er setzte sich. »Man hatte Miu in den Palast befohlen. Ich war natürlich von Anfang an dagegen, aber was sollte ich machen? Lauter Bewaffnete und dazu ein Schwiegersohn, der niemals auch nur ein Wort …« Eine abschätzige Geste.
»Und dann?« Was hätte Ani jetzt für einen Becher Wasser gegeben! Aber er vergaß, danach zu fragen.
»Mitten in der Nacht war sie plötzlich wieder zurück. Verheult, durcheinander, nicht mehr sie selber. Zwei Kleider übereinander hatte sie an, ihr eigenes und darunter so einen dünnen Fetzen aus dem Palast. Ich hab ihr gut zugeredet, sie später sogar gepackt und geschüttelt - aber nichts war aus ihr herauszubekommen, gar nichts! Miu ist
in ihrem Zimmer verschwunden und erst am nächsten Nachmittag wiederaufgetaucht.«
»Aber er hat sie doch nicht etwa …« Anis Augen waren riesengroß. »Der Pharao …«
»Sei unbesorgt!«, sagte Raia. » Das ist nicht passiert - obwohl es durchaus hätte passieren können.Aber offenbar hat die Große Königliche Gemahlin rechtzeitig für eine Unterbrechung gesorgt. Anchesenamun weiß in solchen Fällen ganz genau, was zu tun ist. Darin ähnelt sie ihrer verstorbenen Mutter!«
»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Ani.
»Wenn ich das wüsste! Vielleicht hat der Einzig-Eine ja die Lust an Miu verloren, das wäre die beste aller Möglichkeiten, aber leider nicht die wahrscheinlichste. Vielleicht wird er sie noch einmal holen lassen, um seine Spiele weiterzuführen. Was können wir schon dagegen tun? Wir sind nur ganz gewöhnliche Menschen, er aber ist Pharao und Gott in einer Person!«
Anis Kopf begann zu dröhnen, und das nicht nur, weil er so kurz geschlafen hatte.
»Ich bin da einer seltsamen Sache auf der Spur«, sagte er, um das Thema zu wechseln, aber auch weil Raias Antwort ihn interessierte. »Nacht für Nacht stehen ein Kollege und ich vor der Mauer des Wüstendorfs Wache. Es heißt, gewisse Gräber im Tal der Könige würden geschändet - und tatsächlich verschwinden offenbar kleine Kostbarkeiten aus den Grabkammern, die später in Waset zu stattlichen Preisen angeboten werden. Wir aber sehen und hören nichts - außer dem Wind und den Sternen.«
»Sie schmuggeln es auf anderem Weg heraus«, sagte Raia prompt. »So muss es sein!«
»Wie meinst du das?«
»Das kann ich dir nicht genauer sagen. Dazu müsste ich mehr wissen. Aber sie tun es. Garantiert! Ihr schiebt Nacht für Nacht Wache? Dann musst du ab jetzt tagsüber die Augen offen halten - oder besser noch ein anderer Kollege, sonst wirst du uns vor lauter Übermüdung noch elend und krank.«
Er schnaubte abfällig und sagte: »So leicht bin ich nicht unterzukriegen. Der Krieg hat einen ganz schön harten Burschen aus mir gemacht!«
»Genau davor hab ich manchmal Angst.« Raias Augen waren voller Mitgefühl. »Ich möchte nicht, dass du vergisst, wer du wirklich bist, mein Junge. Bitte ändere dich nicht. Wir alle lieben dich genau so, wie du bist. Deine Mutter. Ich. Und auch Miu.«
»Danke«, sagte er und fügte leise hinzu: »Aber bei Miu täuschst du dich.«
SIEBTES KAPITEL
S ie weint und schreit, weil sie Angst hat, auch noch ihn zu verlieren. Eigentlich fürchtet sie sich vor ihm, aber er ist der Einzige, an den sie sich jetzt halten kann, hier, inmitten dieser entfesselten Menge. Überall Beine und Leiber, in schneller, ununterbrochener Bewegung, getrieben wie von einem Strom, der alle mitreißt.
Ihr Schreien wird lauter, will ihr beinahe den Mund sprengen. Da packen sie seine groben Hände, heben sie abrupt hoch. Sie verstummt, in einer Mischung aus Erstaunen und Erschrecken, denn plötzlich schwebt sie und kann endlich über die Köpfe hinwegsehen: zwei goldene Streitwagen, in wilder Fahrt, die jeweils etwas Dunkles mitschleifen …
Die Menge wird lauter, als hätten alle Kehlen sich auf einmal zu einem einzigen Schrei vereint: »Ewige Verdammnis ihm, dem gottlosen Ketzerkönig Echnaton, und Nofretete, seiner verbrecherischen Gemahlin …«
Sie thront auf seinen Schultern, nach einem Halt suchend, denn er rennt viel zu schnell. Doch ihre Finger finden nichts, in das sie sich krallen könnten. Sein Schädel ist glatt poliert wie ein Ei, als wäre ihm niemals
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