Der Kuss des Anubis
sich ein Leben lang gefühlt hatte.
Erst als Ramose direkt vor den Bahren stand, erkannte er, was hier geschehen sein musste. Der unerträgliche Gestank setzte sich aus verschiedenartigen Aromen zusammen, die, für sich genommen, eigentlich berauschend rochen - der gesamte Inhalt seiner Parfumsammlung.
Jemand hatte seine gesamten Schätze über den Toten ausgeschüttet und damit vernichtet. Ramose griff sich an die Brust, weil er dort plötzlich eine nie zuvor gekannte Enge spürte.
Erkenne dein Verbrechen an - so lautete die Botschaft des blutroten Herzskarabäus, die er offenbar missverstanden hatte.
Es ging gar nicht um die Trennung von seiner heimlichen Geliebten. Das große Opfer, das darin bestand, Meret zu verlassen, hatte er umsonst gebracht. Die Vergangenheit war wiedergekehrt und streckte ihre dunklen Arme gebieterisch nach ihm aus.
Plötzlich bekam er Angst. Todesangst.
Was würde als Nächstes geschehen?
Mit aufgerissenen Augen starrte er zur Tür, die sich
langsam öffnete. War sie das bereits, die Totenfresserin, die seinem Leben ein hässliches Ende bereiten würde?
»Meister?«, hörte er Ipi sagen. »Wo steckst du denn so lange? Ich hab mir Sorgen gemacht. Da dachte ich, ich schau mal lieber, wo du bleibst!«
Niemals zuvor hatte Ramose eine menschliche Stimme als so beruhigend empfunden.
»Komm rein«, sagte er, mühsam beherrscht. »Und schau dir das hier an!«
Ipi gehorchte. Kaum sah er, was geschehen war, da zog er die Luft scharf ein. »Aber wer macht denn so etwas?« Er klang, als müsste er mit den Tränen kämpfen.
»Das wüsste ich auch gern! Wir müssen es wieder in Ordnung bringen, am besten nur wir beide, du und ich. Je weniger von unseren Leuten davon erfahren, desto besser! Sonst weiß es bald die ganze Stadt.«
»Das allerdings, Meister, sehe ich vollkommen anders.« Ipi war vor ihm stehen geblieben, endlich mal ernst, ohne sein ständiges Dauergrinsen.
»Was willst du damit sagen?«
»Möchtest du nicht wissen, wer dafür verantwortlich ist?«, fragte Ipi.
»Natürlich! Mehr als alles andere. Aber glaubst du, das würde jemand zugeben - einfach so?«
»Einfach so bestimmt nicht! Doch wenn man sie alle antreten lässt und ihnen auf den Zahn fühlt, dann könnte vielleicht etwas herauskommen, meinst du nicht auch, Meister?«
Ramose warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Was genau schlägst du vor?«, fragte er.
»Überlass das ruhig mir, Meister!«, sagte Ipi. »Es gibt einige
Dinge, in denen ich gar nicht so schlecht bin. Und Leute zum Reden zu bringen, die eigentlich nichts sagen wollen, gehört auf jeden Fall dazu.«
Ramoses Erleichterung wuchs. Es juckte ihn in den Fingern, endlich diese Verwüstung zu beseitigen. Wenn Ipi freiwillig den anderen Part übernahm, umso besser!
»Ich weiß schon lange, wovon du heimlich träumst«, sagte er. »Und mir ist bekannt, welch harte Nuss meine Tochter Miu sein kann. Doch du sollst wissen, dass deine Träume mir durchaus gefallen. Wenn wir mit dem hier« - sein Blick glitt über die Verwüstung in der Halle - »fertig sind, setzen wir beide uns einmal zusammen und reden. Zwei Männer, ein Plan. Einverstanden?«
»Zwei Männer, ein Plan. Immer zu Diensten, Meister!«, antwortete Ipi mit einem Grinsen.
Er musste sie sehen, auch wenn Ani nicht genau wusste, welchen Vorwand er anführen sollte. Aber irgendetwas in ihm ließ ihm einfach keine Ruhe.
Leicht taumelig von dem wenigen Schlaf und mit so überempfindlichen Sinnen, als hätte ihm jemand die Haut abgeschabt, näherte er sich dem Haus des Balsamierers. Anuket veranstaltete ihr übliches Spektakel, als sie ihn erblickte, war zum Glück aber mit Brotbacken beschäftigt und hatte wenig Zeit.
»Nach Miu fragst du?« Sie zog die Brauen hoch, als hätte er etwas Unmögliches gesagt. »Frag mich lieber nicht! Seitdem die königliche Eskorte hier war, ist gar nichts mehr mit ihr anzufangen!«
»Welche Eskorte?« Der Hals war ihm eng geworden.
»Vor einigen Tagen. Die Leibwache des Königs. Sie haben Miu in einer Sänfte in den Palast geschafft. Und irgendwann, nach Stunden, war sie wieder da. Da hab ich allerdings schon tief und fest geschlafen.«
Jetzt erst schien ihr sein aschgraues Gesicht aufzufallen.
»Wenn du mehr wissen willst, musst du die Herrin fragen«, sagte Anuket. »Ich glaube, es gab großen Streit. Aber mir sagt in diesem Haus ja nie jemand etwas!«
Es kostete Ani Überwindung, an Raias Tür zu klopfen, doch er tat es.
»Mein Junge!« Ein Lächeln ging
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