Der Kuss des Anubis
verletzten Gefühle konnten da noch länger im Mittelpunkt stehen. Was die Erwachsenen dazu bewogen hatte, ihr das Märchen von Mamas Tod zu erzählen, hatte sie bis heute nicht herausbekommen.
»Ich kann es dir nicht sagen, leider.« Sadeh wand sich jedes Mal, wenn Miu sie darauf ansprach. Natürlich redete Miu inzwischen wieder mit ihr und auch mit Großmama, doch die frühere Innigkeit war verschwunden und wollte sich nicht wieder einstellen. »Bitte frag nicht immer wieder dasselbe!«
»Ich bin längst alt genug, um auch komplizierte Dinge zu verstehen. Außerdem kann ich schweigen. Von mir würde keiner etwas erfahren! Warum erklärst du es mir also nicht?«
Sadeh fuhr zu ihr herum.
»Weil es uns alle in Gefahr bringen könnte - deinen Vater, Großmama, mich, vor allem aber dich! Und genau das möchte ich verhindern.«
»Streitet ihr deshalb ständig, Papa und du?«
Sadeh nickte.
»Und es hat mit der Sonnenstadt zu tun?«, bohrte Miu weiter. »Das hat es doch, oder?«
»Wie kommst du darauf?« Etwas in Mamas Tonfall verriet ihr, dass sie auf der richtigen Fährte war.
»Weil wir dort früher gelebt haben, alle zusammen«, sagte Miu rasch. »Aber als wir nach Waset gingen, waren wir auf einmal nur noch zu dritt.«
»Ich konnte nicht länger mit deinem Vater leben. Nicht, nachdem er …« Sadeh verstummte.
»Nachdem er was?«, fragte Miu.
»Hör endlich auf!« Mama klang zornig. »Man kann nicht immer seinen Willen durchsetzen. Manchmal muss man eben akzeptieren, dass gewisse Dinge so sind, wie sie sind. Und jetzt lass mich bitte allein. Ich hab schon wieder diese schlimmen Kopfschmerzen!«
Miu verzog sich in den Küchenhof. Pau strich ihr tröstend um die Beine. Ihr Bauch war dicker geworden und beim Streicheln waren die Zitzen deutlich zu spüren. Jetzt begann die anhänglichste Phase, wo die Katze nicht mehr nach draußen wollte, sondern sich am liebsten Tag und Nacht im Haus aufhielt.
Miu kraulte ihr das Köpfchen, so wie sie es am liebsten hatte. Pau schnurrte genüsslich.
In diesem Moment kam Anuket in den Hof gestürzt.
»Die Leibwache des Pharaos!«, schrie sie aufgeregt. »Schon wieder diese finsteren bewaffneten Kerle, die nach dir verlangen! Hört das denn niemals auf? Amun sei uns gnädig - was sollen wir denn jetzt nur tun? Der Herr ist in der Werkstatt, die alte Herrin außer Haus, und deine Mutter …«
»Ich gehe mit ihnen«, rief Miu.
Sollten sie doch zusehen, wohin sie alle kamen mit ihrer verdammten Geheimniskrämerei! Sogar Ani konnte ihr von nun an gestohlen bleiben. Er und kein anderer hatte nämlich den Brief verfasst, der Mama zurückgerufen hatte,
das war Sadeh irgendwann herausgerutscht. Ani hatte also gewusst, dass Mama lebte, und Miu kein Wort davon verraten. Kein Wunder, dass er so verlegen gewesen war, als Sadeh plötzlich leibhaftig auf der Fähre aufgetaucht war!
Spätestens seit dieser Enttäuschung wartete Miu auf eine neue Botschaft des Pharaos, auch wenn es sie vor den Kopf gestoßen hatte, dass Tutanchamun zwei seiner Diener hatte sterben lassen.
»Aber du kannst doch nicht einfach …« Anuket gingen die Worte aus, was selten genug geschah.
»Mach dir keine Sorgen - ich kann sehr gut auf mich aufpassen!« Miu war bereits an ihr vorbeigelaufen.
In der Sänfte allerdings überschlugen sich ihre Gedanken. Wie schäbig sie in seinen Augen aussehen musste! Nicht einmal zum Umziehen war sie noch gekommen. Andererseits konnte sie darauf verzichten, dem Pharao nochmals gesalbt und geschmückt wie ein Opfertier vorgeführt zu werden - genau so hatte sie sich damals nämlich gefühlt!
Plötzlich stutzte sie. Woher wollte sie eigentlich wissen, dass Tutanchamun sie holen ließ? Genauso gut konnte es ein Befehl der Großen Königlichen Gemahlin sein, die ihre Meinung geändert hatte und sie inzwischen doch wieder zur Hofdame machen wollte.
Eine Vorstellung, die Miu ganz und gar nicht behagte.
Doch zum Umkehren war es ohnehin zu spät. Es blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten. Der mittlerweile vertraute Weg zum Westufer erschien ihr unendlich. Sie ertappte sich dabei, dass sie voller Ungeduld auf ihren Fingernägeln herumbiss, eine Unsitte, die Raia ihr nur mühsam abgewöhnt hatte.
Als der Palast der leuchtenden Sonne vor ihnen auftauchte, verstärkte sich Mius Herzklopfen. Beim letzten Besuch hatte es ein rauschendes Fest mit einem sehr hässlichen Ausgang gegeben.
Was würde sie heute erwarten?
»Da bist du ja endlich«, sagte der Pharao, kaum
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