Der Kuss des Anubis
hatte sie die Sänfte verlassen. »Nein, nicht zu Boden sinken, das kannst du dir heute sparen. Komm lieber, ich will dir etwas zeigen!«
Begleitet von den Männern seiner Leibgarde, die aber Abstand hielten, führte er sie am Palast vorbei.
»Wohin gehen wir?«, fragte Miu.
»Das wirst du gleich sehen.«
Es waren die Stallungen, ein Stück entfernt gelegen, die er anstrebte. Der Geruch nach Tieren und Futter schlug ihnen entgegen, noch bevor sie dort angekommen waren.
Vor den lang gestreckten Gebäuden stand ein Streitwagen, der verschwenderisch mit Gold überzogen war. Davor zwei Pferde, eines braun, das zweite so schwarz wie die Nacht.
»Meine neuen Gefährten«, sagte Tutanchamun mit einem aufgeregten Unterton, der Miu ganz neu an ihm war. »Zwei Wesen, denen ich völlig vertrauen kann.«
Er deutete auf den Braunen. »Er heißt Wind« , sagte er. »Und den Schwarzen habe ich Sturm genannt. Steig auf, Miu!«
»Auf den Wagen?«
»Wohin sonst? Wir machen einen kleinen Ausflug, den du niemals vergessen wirst!«
Zögernd gehorchte Miu. Die Tiere tänzelten und schnaubten. Und sie kamen ihr sehr groß vor, zu groß für ihren Geschmack.
Wenn man eingestiegen war, fühlte sich der Boden unter den Füßen eigenartig an. Er bestand aus einem dichten Flechtwerk aus Lederriemen, in der Mitte bedeckt mit Fell und Leinen. Als sie sich vorsichtig darauf bewegte, schien er leicht nachzugeben.
»Es ist wichtig, dass der Boden mitschwingt.« Dem Pharao waren ihre prüfenden Blicke keineswegs entgangen. »Umso wichtiger, je rauer der Untergrund ist, den der Wagen befährt. Die Wüste ist nicht eben und glatt, wie manche Leute denken. Da liegen jede Menge Steine herum, die einem den Hals brechen können, wenn man nicht aufpasst.«
»Du willst mit mir in die Wüste, Goldhorus?«, rief Miu.
»Genau das hatte ich dir doch versprochen. Erinnerst du dich nicht mehr?« Er stand neben ihr, vibrierend vor Ungeduld und Tatendrang.
»Und wo hält man sich fest?«, fragte Miu beklommen.
»Hier vorne. Siehst du den runden Bügel? Der ist genau dafür da.« Tutanchamun schnalzte, bereit zum Wegfahren, als plötzlich von der Seite etwas Rötliches angeschossen kam.
Er zog an den Zügeln und brachte die Pferde zum Stehen.
»Jamu«, rief er, »mein kleiner Löwe! Heute kannst du uns leider nicht begleiten. Und pass gut auf, dass du nicht unter ihre Hufe gerätst, denn das würdest du nicht überleben.«
»Er folgt dir auf Schritt und Tritt?«, fragte Miu, die der Anblick des anhänglichen Feuerkaters rührte.
»Wohin ich auch gehe! Als ob er nicht ohne meine Anwesenheit sein könnte. Ich danke dir sehr für dieses Geschenk, Miu!«
Bevor sie sichs versah, hatte er seine Armspange abgestreift und sie ihr über den Oberarm geschoben. Ein springender Löwe aus Karneol, der im Sonnenlicht mit dem rötlichen Gold des Untergrunds um die Wette leuchtete.
»Das kann ich nicht annehmen!«, murmelte sie entzückt.
»Und ob du das kannst - lass uns fahren! Die Achsen sind geprüft, die Räder untersucht. Ich verspreche dir, uns wird nichts geschehen.«
Es ging schneller voran, als Miu es jemals für möglich gehalten hatte, vorbei an den Stallungen, dann quer über einen großen sandbestreuten Platz, der aussah, als hätte man ihn gerade erst fertiggestellt.
»Was ist das?«, rief Miu, der Sandkörnchen wie winzige Geschosse um die Ohren flogen.
»Meine neue Rennbahn!« Tutanchamun trieb die Pferde weiter an. »Bald werde ich für alles gerüstet sein!«
Miu schaute über die Schulter nach hinten. Drei weitere Wagen folgten ihnen - die Männer der Leibgarde. Der Pharao schien fest entschlossen, kein Risiko mehr einzugehen. Trotzdem machte die Beschattung ihr zu schaffen, heute mehr als je zuvor, obwohl Miu gar keinen Grund dafür hätte nennen können.
Entschlossen wandte sie sich nach vorn. Vor ihr lag ein unbekanntes Abenteuer - und darauf wollte sie sich jetzt freuen.
Sie fuhren nach Westen, das konnte sie vom Stand der Sonne noch ablesen, doch schon bald löste sich für Miu jegliche Orientierung auf. Alles um sie herum schien nur noch gelb, ocker oder hellbraun zu sein, es gab keine Häuser mehr, keine Pflanzen, nur noch Sand und Steine.
Außerdem wurde es immer heißer. Die Luft flirrte, über allem lag goldener Dunst. Seth, der rote Gott der Dürre, blies ihnen seinen glühenden Atem entgegen, der die Haut verbrannte. Sand war inzwischen überall, schien jede Ritze zu füllen, war in Ohren, Nase, Augen und zwischen die
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