Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Man könnte auch Makkabäer 2, Kapitel 3 gelten lassen: Heliodor wird von zwei Engeln ausgepeitscht, weil er für den syrischen König die Tempelschätze abholen will. Oder auch das zweite Buch der Könige bzw. Jesaja, wo von einem Engel des Herrn berichtet wird, der im Heerlager der Assyrer über Nacht 185000 Mann erschlagen haben soll. Dagegen ist die humorige Geschichte um Bileam eher harmlos, der …«
»Danke, Jean, das reicht mir wirklich«, fiel Sophie ihm ins Wort. »Ich verstehe überhaupt nicht, wie man das alles unter den Tisch fallen lassen und vom lieben Gott reden kann. Da erscheint mir viel ehrlicher, wie mein Opa Gott immer gefürchtet hat.«
»Dann verstehst du jetzt vielleicht besser, warum ich kein Priester geworden bin.« Er klappte das Buch zu und legte es aufs Regal. »Die Bibel und die Lehre der Kirche sind eine Ansammlung von Widersprüchen, die mithilfe von Dogmen zwar nicht aufgelöst, aber zum Geheimnis erklärt werden. An diese Mysterien muss man dann einfach glauben – oder eben nicht. Ich gebe zu, ich tue es nicht. Trotzdem kann ich nicht leugnen, was ich erlebt habe … Ich weiß nicht, wer oder was sich wirklich hinter dem versteckt, was wir Gott nennen. Aber wenn es einen Satz in der Bibel gibt, der der Wahrheit nahe kommt, würde ich sagen, dass es Jesaja, Kapitel 45, Vers 7 ist: ›Ich bilde das Licht und die Finsternis. Ich wirke das Heil und das Unheil. Ich, der Herr, bin es, der alles bewirkt.‹«
I n der Kapelle herrschte Zwielicht, da sie kaum Fenster besaß und das bunte Glas nur wenig Sonne hereinließ. Hinzu kamen die Schatten der hohen Klinikgebäude, die den kleinen Anbau umgaben wie Felswände aus Beton und Glas. Dennoch weigerte sich Abbé Gaillard, am helllichten Nachmittag Kunstlicht zu benutzen. Er schien eine geradezu abergläubische Abneigung gegen Glühbirnen zu hegen, als hätte das Elend der aufgeklärten Moderne mit der Entdeckung der Elektrizität begonnen. Jean hatte sich schon lange mit den Macken des alten Priesters abgefunden und beobachtete von der letzten Bank aus aufmerksam die Vorbereitungen für den Exorzismus. Gaillards Helfer entzündeten Kerzen auf dem Altar, während der Abbé den Raum mit Weihrauch abschritt und Weihwasser versprengte, um ihn zu segnen.
In den dunklen Klamotten könnte man uns glatt für Vater und Sohn halten, dachte Jean spöttisch, denn er wusste, wie sehr es den Priester ärgern würde, darauf hingewiesen zu werden. Es hätte ihm nur bewusster gemacht, was er für sein Versagen hielt, seit es ihm nicht gelungen war, den jungen Studenten auf die Seite der Exorzisten, der konservativsten Kreise unter den Geistlichen, zu ziehen. Die Ähnlichkeit war trotzdem unübersehbar. Auch Gaillard war groß und sehr schlank, doch er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und rasierte sich täglich. Jeans Dreitagebart hatte er schon öfter als Zeichen der Verwahrlosung bezeichnet. Beide besaßen sie hagere Wangen und im Gegensatz dazu stehende volle Lippen, obwohl jene des Abbés über die Jahre dünner geworden waren.
Den etwas kleineren, aber sehr kräftig gebauten Mann, den Gaillard mitgebracht hatte, kannte Jean noch nicht. Nach den feindseligen Blicken zu urteilen, mit denen der Fremde ihn bedachte, musste der Abbé wenig Schmeichelhaftes über ihn erzählt haben. Vielleicht störte er sich aber auch nur an der Anwesenheit eines ungläubigen Verräters bei einem heiligen Ritual. Sei’s drum. Solange ihn der Kerl nicht anpöbelte, was in diesem andächtigen Moment nicht zu erwarten war, sollte er glotzen, so viel er wollte.
Die ältere Frau, die als Anstandsdame mitgekommen war, weil die Kirche dies empfahl, war ihm dagegen von früheren Exorzismen in Erinnerung. Ihm gegenüber wahrte sie zwar stets Zurückhaltung, doch sie wirkte eher um sein Seelenheil und das Wohl der Besessenen besorgt als unfreundlich. Er hoffte, dass ihre stille, besonnene Gegenwart es auch für Lilyth einfacher machen würde, sich diesen Fremden anzuvertrauen.
»Sie können das Mädchen jetzt hereinholen, Méric«, gestattete Gaillard, während er das Räuchergefäß seinem Helfer übergab.
Jean stand auf und ging hinaus. Einen Augenblick lang fürchtete er, Lilyth könne es sich anders überlegt haben, bevor er sie hinter einer Schautafel mit Informationen über kirchliche Aktivitäten im Krankenhaus entdeckte.
»In Nachthemd und Bademantel komme ich mir total bescheuert vor«, beschwerte sie sich. Zusammengekauert und mit misstrauischem Blick hing
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