Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
hätte seine Worte nie wieder für bare Münze genommen.
Jean hatte das Zimmer durchquert und stand vor ihr. Mitgefühl lag in seinem Blick, als er mit der Hand ihre Wange berührte. »Du musst mir ebenso wenig glauben wie ihm. Wir sind nur verbitterte Männer – jeder auf seine Weise.«
Rasch schlug sie den Blick nieder und wandte sich ab, bevor etwas geschehen konnte, das sie später bereuen würde. Er ließ die Hand sinken. Sie räusperte sich, um ihrer Stimme neue Festigkeit zu verleihen, doch es blieb ein Kratzen zurück. »Ich will wissen, wie du darauf kommst.« Sie fand den Mut, ihn wieder anzusehen und sich entschlossen zu geben. »Erklär mir, wie du es begründest.«
Falls er enttäuscht war, verbarg er es gut. »Gut, dann komm mit!« Er ging den Flur entlang. »Vielleicht willst du manches selbst nachlesen.«
Sie folgte ihm in einen Raum, der offenbar viel eher seinen Lebensmittelpunkt darstellte als das kahle Wohnzimmer. Die Wände waren weitgehend hinter vollgestopften Bücherregalen verschwunden, doch die großen Fenster sorgten dennoch für Licht. Schwarz-Weiß-Fotos und historische Stadtpläne von Paris besetzten jene Flecken, wo sich keine Regale ausgebreitet hatten, während eine aktuelle Karte einen Großteil des Couchtischs – und dessen, was sich noch darauf befand – verdeckte. Ein Glas mit eingetrockneten Rotweinresten und eine halbleere Schale Erdnüsse standen auf dem ansonsten mit Zetteln, Zeitschriften und Büchern übersäten Schreibtisch. Farbe und Beschaffenheit der Couch blieben unter einem afrikanisch anmutenden Überwurf und zerknautschten Kissen verborgen. Es roch nach alten Büchern, einer Prise Tabak und dem Duschgel, dessen Duft ihn trotz des Zigarettenrauchs noch umgab. Nachdem sie so lange gestanden hatte, zog es sie auf das Sofa, doch sie achtete darauf, etwas Abstand zu Jean zu wahren, der sich ebenfalls setzte. Sie beobachtete, wie er mechanisch nach der Brusttasche eines Hemds griff, obwohl er keines trug, und über seine eigene Geste die Stirn runzelte. Doch er stand nicht auf, um sich die Zigaretten zu holen. »Hast du diese Frage auch dem Abbé gestellt?«, erkundigte er sich stattdessen.
»Ja, aber für ihn war einfach alles gut und richtig, was von Gott kommt, weil es nicht böse oder falsch sein kann. Meine Religionslehrerin hat immer gesagt, dass Gott das Böse in der Welt zulässt, damit wir wählen können. Aber das hat mich nicht überzeugt, weil sich nicht jedes schlimme Geschehen auf die Wahl eines Menschen zurückführen lässt. Vieles natürlich schon. Wenn mich jemand überfällt, hat er sich vorher entschieden, etwas Schlechtes zu tun. Aber wenn ich zum Beispiel Krebs bekomme, obwohl ich mich um eine gesunde Lebensführung bemüht habe? Da fällt es schon leichter, an naturwissenschaftlich erklärbaren Zufall zu glauben, als es mit einem Gott oder Teufel begründen zu wollen.«
Jean fand zu einem verschmitzten Lächeln zurück. »Dann weiß ich gar nicht, warum wir hier sitzen. Die Menschen sind schlecht und das Leben voll von gemeinen Zufällen. Damit ist alles erklärt.«
Sophie lächelte ein wenig gezwungen. »Ich war lange ganz zufrieden damit zu glauben, dass ich die Welt so sehe. Aber in letzter Zeit habe ich gemerkt, dass ich insgeheim doch immer dachte, dass es einen lieben Gott geben muss, der am Ende alles wieder geradebiegt. Jetzt komme ich mir dämlich und naiv vor. Ich meine, Rafe … also, dass ich einen gefallenen Engel enttarnt habe, beweist ja die Existenz höherer Mächte. Aber dadurch ist nichts einfacher geworden – im Gegenteil.«
»Hm, das Bild, das die Kirche zeichnet, ist eigentlich simpel. Alles Böse geht vom Teufel aus, der die Menschen damit peinigt und sie zur Sünde verführt. Gott ist dagegen per Definition das Gute, und wer sich an seine Gebote hält, wird spätestens im Himmel dafür belohnt.«
Sophie warf ihm einen verwirrten Blick zu. Das klang sehr viel schlüssiger als die Argumentation des Priesters, der einen Ausgleich im Jenseits nicht erwähnt hatte. »Ja, aber wenn es so einfach ist, warum glaubst du es dann nicht?«
»Ich kann mich der Meinung nicht anschließen, dass Gott und sein Wirken grundsätzlich gut sind. Nur weil ich jemandem hinterher ein Bonbon schenke, macht es die Ohrfeige, die ich ihm vorher verabreicht habe, nicht zu einer guten Tat.«
Nun musste sie doch grinsen. »Gott verteilt Bonbons und Ohrfeigen?«
»Und zwar ziemlich willkürlich, wenn man die Bibel dazu
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