Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
nicht, was daraus werden soll«, gab sie zu. »Aber ich bitte dich darum, mir zu helfen, die Dinge klarer zu sehen.«
Stumm schüttelte er den Kopf, bevor er doch antwortete. »Ich verstehe nicht, was du mehr wissen musst, als dass er ein gottverdammter Dämon ist.«
»Er sagt, dass er das nicht freiwillig ist.«
Jean schnaubte, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Wenn jemand wissentlich gegen das Gesetz verstößt, landet er deshalb natürlich nicht freiwillig im Knast. Aber die Wahl, die ihn dort hinführte, hat er schon selbst getroffen, oder siehst du das anders?«
»Erzählst du das auch den chinesischen Regimekritikern, die inhaftiert werden, weil sie gegen despotische Gesetze verstoßen?«
»Ich rechtfertige nicht die Gesetze, sondern stelle nur richtig, dass bewusst, also freiwillig gegen sie verstoßen wurde. Das ist ein Unterschied. Du wolltest doch, dass ich ihn widerlege.« Er hatte sich umgedreht und sah sie herausfordernd an.
»Touché. Wenn es stimmt, was er sagt, hat er sich bewusst dafür entschieden, gegen Gott aufzubegehren.« Es kam ihr immer noch albern vor, sich einen alten Mann mit Bart vorzustellen, der Rafe einen Befehl gab. Die Wahrheit musste irgendwie anders aussehen. »Aber«, fuhr sie fort, »es bedeutet nicht, dass er gern ein gefallener Engel ist und Freude daran hat, Unheil zu stiften.«
»Ach? Das hat er gesagt?« Jean klang halb belustigt, halb interessiert.
»Er gibt zu, dass er sich daran gewöhnt und zynisch wird, aber er wäre lieber wieder Herr seiner selbst.«
»Zweifellos. Wer würde das nicht?«
»Würdest du bitte versuchen, ernsthaft darüber nachzudenken, anstatt hämisch zu werden? Ich will wissen, ob er mich belügt oder ob etwas Wahres daran sein kann.«
»Hm«, machte er und rieb sich die stoppelbärtige Wange. »Das ist sehr schwer zu sagen. Die offizielle Lehrmeinung der Kirche, wie sie im Katechismus festgehalten ist, besagt, dass gefallene Engel keine Reue empfinden. Sie haben sich bewusst für die Rebellion gegen Gott entschieden, und diese Wahl ist endgültig.«
»Von Reue hat er auch nichts gesagt«, bestätigte sie. »Er würde wieder so handeln, wie er es getan hat, weil es ihm richtig erscheint.«
»Ich fürchte, ich habe das Problem nicht verstanden. Keine Reue, keine Gnade. Was erwartet er denn?«
»Nach allem, was ich in diesem Buch Henoch gelesen habe, hätte er auch keine Vergebung zu erwarten, wenn er darum bitten würde«, merkte Sophie an.
»Ein Priester würde dir entgegenhalten, dass es sich nicht um eine kanonische Schrift handelt. Ich bin da weniger kleinlich, weil ich diese Zuweisungen für willkürlich halte, aber das würde jetzt zu weit führen. Halten wir uns an den konkreten Fall! Gadreel bereut nicht, was zu seinem Sturz führte. Jetzt ist er ein Dämon und verabscheut sich dafür, Schlechtes zu tun. Warum lässt er es nicht einfach bleiben?«
»Er behauptet, dass er das nicht kann. Es sei ihm nicht möglich, gute Taten zu vollbringen, und er sei gezwungen, Böses zu tun.« Sie zögerte, weil sie glaubte, seine Reaktion bereits zu kennen.
»Darüber wird in den biblischen Schriften nichts gesagt. Die Kirchenväter und später die Theologen gingen stets davon aus, dass Dämonen in ihrem Hass auf Gott aus freien Stücken die Welt ins Verderben stürzen wollen. Woher sie das wissen wollen …« Jean zuckte die Achseln.
»Rafe sagt, es sei eine Entwicklung. Er spürt ihre Anfänge, und mit der Zeit wird er zu einem Dämon werden.«
»Exorzisten berichten, dass Dämonen gelegentlich nicht kooperieren, weil sie angeblich von mächtigeren Wesenheiten gezwungen und bedroht werden. Natürlich können auch das Lügen sein, um die Priester zu verwirren. Es tut mir leid, Sophie, aber wir haben keine Möglichkeit, das zu überprüfen.«
Dann musste sie eben doch die Frage stellen, die sie am meisten verstörte und von der sie annahm, dass sie ihn genauso aufbringen würde wie Abbé Richet. »Glaubst du … könnte es sein, dass alles Böse in der Welt letztendlich auch von Gott ausgeht? Dass selbst gute Engel manchmal schlimme Dinge tun müssen?« Unwillkürlich zog sie den Kopf ein.
»Ja, das glaube ich.«
Überrascht starrte sie ihn an.
»Was siehst du mich denn jetzt so entgeistert an? Wolltest du lieber etwas anderes hören?«
Im Grunde meines Herzens … »Ja, ich fürchte, mir wäre lieber, du hättest gesagt, dass Rafe mich nur täuschen wollte.« Dann hätte er mich über die Gründe für seinen Sturz belogen, und ich
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