Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
befragt.«
»Abbé Richet sagte, dass wir eben daran glauben müssen, dass Gott gute Gründe hat, warum er uns Prüfungen auferlegt. Auch wenn wir sie nicht erkennen.«
»Ein biblisches Beispiel gefällig, bei dem der Grund ausführlich erklärt wird?«
»Äh, ja, warum nicht?«
»Weil es dir nicht gefallen wird. Zu den wirklich interessanten Aspekten dieser Geschichte gehört, dass der Teufel damals bei Gott offenbar noch ein und aus ging, obwohl er nach späteren Überlieferungen längst in der Hölle schmoren sollte, weil er das Knie nicht vor Adam beugen wollte. Aber das führt jetzt zu weit. Ich komme später darauf zurück, weil es darauf hindeutet, dass dein … Dämon nicht ganz unrecht hat. Auf deine Frage nach den Gründen für die Prüfung Unschuldiger durch Leid, das nicht auf die böse Tat eines anderen zurückzuführen ist, gibt es nämlich im Buch Hiob eine Antwort. Hiob war ein sehr gläubiger und sehr wohlhabender Mann, und es steht geschrieben, Gott habe vor dem Teufel förmlich damit angegeben, was für ein frommer Mensch dieser Hiob sei. Der Satan soll erwidert haben, dass es kein Wunder sei, denn es gehe dem Mann blendend. Wer reich ist, gesunde Kinder hat und sich in allem gesegnet fühlen kann, der hat keinen Anlass, Gott infrage zu stellen. Aber was würde wohl passieren, wenn man Hiob ein paar Schicksalsschläge verabreichte? Diese Frage fand wohl auch Gott spannend.«
»Das steht in der Bibel? Dass sich Gott vom Teufel zu einer Wette überreden lässt, ob der arme Mann auch gläubig bleibt, wenn ihm etwas zustößt?«
Jean zuckte die Achseln. »Soll ich dir die Stelle zeigen? Mich erinnert sie immer an einen Kerl, der seinen Hund schlägt, um zu testen, ob er ihm dann immer noch treu ergeben ist.«
»Das ist widerlich! Wie rechtfertigt die Kirche das?«
»Im Allgemeinen wird da wenig Rechtfertigungsbedarf gesehen. Hiob ist das Vorbild, dem es nachzueifern gilt – am besten ohne den Umweg über die Beschwerden, die er Gott vorgetragen hat. Denn am Ende unterwirft er sich Gottes Allmacht und betet ihn an, ohne je einen Grund für sein Leid erfahren zu haben. Die wirklich spannende Frage wäre, was er getan hätte, wenn man ihm verraten hätte, dass es nur ein Test war. Seine Kinder und Knechte blieben schließlich tot.«
»Gott hat zugelassen, dass seine Kinder getötet wurden, nur um zu sehen, wie er reagiert? Das ist doch unfassbar!«
»Man kann sich immer darauf hinausreden, dass es nur eine Art Gleichnis sei, das erläutern soll, wie der wahre Gläubige mit persönlichem Unglück umzugehen hat.«
»Überzeugender wäre, wenn man ein Beispiel gefunden hätte, bei dem Gott wirklich einen guten Grund dafür hat, Hiobs Leid nicht zu verhindern.«
»Worauf es für deine Frage letztendlich ankommt, ist die Tatsache, dass er den Teufel ganz offiziell damit beauftragt, Unglück über Hiob zu bringen. Und zwar gut dosiert. Zuerst sind es nur seine Besitztümer und Angehörigen, die ihm genommen werden. Als das nicht zieht, darf Satan nachlegen und ihn mit einer Krankheit plagen.«
»Dann hätte Rafe wirklich recht. Nicht nur das Gute, sondern alles geschieht nach Gottes Willen.«
»Du musst nicht daran glauben«, wandte Jean ein. »Es gibt in anderen Religionen andere Erklärungen für die Existenz des Leids. Aber wenn wir uns innerhalb des Christentums bewegen wollen, solltest du wissen, dass der Teufel Satan heißt, was auf Hebräisch eigentlich ›Widersacher‹ im Sinne von ›Ankläger‹ bedeutet. In der Hiob-Geschichte ist er eindeutig von Gott beauftragt, die Menschen zu prüfen und in Versuchung zu führen und über ihr Tun zu berichten. Erst im Neuen Testament wird er mit dem Bösen schlechthin gleichgesetzt.«
»Gibt es noch mehr Beispiele dafür, dass Engel oder Dämonen im Auftrag Gottes Unheil über Menschen gebracht haben?«
»Nun ja, so betrachtet ist das ganze Alte Testament gespickt mit solchen Geschichten. Nimm nur die Sintflut als Beispiel. Oder die Auslöschung von Sodom und Gomorrha. Man kann trefflich darüber streiten, ob solche Massentötungen als gerechte Strafe für sündhaftes Leben angemessen sind. Das führt zu der Frage, wie man generell zur Todesstrafe steht. Aber um beim Thema zu bleiben …« Er stand auf, ging zum Regal neben dem Schreibtisch hinüber und zog ein Buch heraus, um suchend darin zu blättern. »Da hätten wir das zweite Buch Samuel, Kapitel 24: Der Engel des Herrn bringt die Pest über Jerusalem, um König David zu bestrafen.
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