Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
sie in dem Rollstuhl, den sie noch immer brauchte, weil sie Schweißausbrüche bekam, wenn sie längere Zeit auf den Beinen war.
»Du bist krank, und alle wissen das. Niemand wird dich deshalb komisch ansehen.«
»Nee, klar«, höhnte sie. »Zum Anglotzen reicht schon, dass ich’n Freak bin, der sich die Arme aufschneidet.«
»Lilyth, wenn hier jemand ein Freak ist, dann ich, weil ich nachts durch Paris renne und Dämonen nachjage, die es angeblich nicht gibt. Und ein Priester, der Marilyn Manson für eine Inkarnation des Teufels hält, steht in der Öffentlichkeit auch nicht gerade gut da.«
»Echt? Marilyn Manson ist der Satan?« Sie schien so verunsichert, dass sie bereit war, alles zu glauben.
Jean grinste. »Jedenfalls würde ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass er es nicht ist.«
»Du verarschst mich. Das ist nicht fair!«
»Wir sollten jetzt reingehen, Lilyth. Selbst ein Abbé kann nicht durchsetzen, dass wir dich hier unten Nachtschichten einlegen lassen.« Er wollte um den Rollstuhl herum gehen, doch sie hielt ihn am Arm fest.
»Mir kann doch nichts passieren, oder?« Ihre dunklen Augen waren so geweitet, dass es ihm vorkam, als könne er durch sie in fremde Welten stürzen.
Behutsam löste er sich aus ihrem klammernden Griff und drückte bestärkend ihre Hand. »Ich werde die ganze Zeit direkt neben dir bleiben, wenn du das willst.«
»Kannst du …« Sie wurde so leise, dass er sie kaum verstand. »… auch meine Hand halten?«
Er ließ sie los und strich ihr kurz übers Haar. »Das würde ein bisschen seltsam aussehen, Hand in Hand vor einem Priester. Meinst du nicht?«
Es nötigte ihr ein kleines Lächeln ab, doch sie sah immer noch ängstlich aus. Da muss sie durch, dachte er und schob endlich den Rollstuhl zur Tür der Kapelle hinüber. Er würde ihr die Furcht nicht nehmen können, ganz gleich, was er tat. Die ältere Dame öffnete bereits – wohl um nachzusehen, wo sie blieben. Sie hielt den Schlüssel und das Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören! Private Andacht« bereit, damit niemand in das Ritual hineinplatzte.
Jean beobachtete, wie sie Lilyth mütterlich zulächelte, und hätte gern gewusst, ob es Wirkung zeigte, doch von hinten konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Abbé Gaillard hatte sich eine violette Stola umgelegt und stand wartend vor dem Altar, den Helfer mit dem Weihwasser an seiner Seite. Während er hinter sich hörte, wie die Tür abgeschlossen wurde, fuhr Jean Lilyth den kurzen Mittelgang entlang. Der Priester, der sie schon vor den Vorbereitungen begrüßt und sich vergewissert hatte, dass sie den Exorzismus tatsächlich wünschte, nickte ihnen nun nur noch ernst zu. Wie er es versprochen hatte, setzte sich Jean direkt neben Lilyth an den Rand der ersten Bank. Das Ritual mochte er Gaillard überlassen haben, doch die Verantwortung konnte er nicht so leicht abstreifen.
Der Abbé reichte Lilyth ein hölzernes Kruzifix. »Sehet das Kreuz des Herrn! Fliehet, ihr feindlichen Mächte!«
Das Mädchen nahm das Kreuz entgegen und warf Jean einen ratlosen Blick zu.
»Einfach nur festhalten und beten«, flüsterte er.
Gaillard nickte bestätigend, dann machte er mit feierlicher Geste das Kreuzzeichen über Lilyth, sich selbst und alle Anwesenden, bevor er das Aspergill aus dem silbern schimmernden Eimerchen nahm, das sein Helfer ihm hinhielt, und sie mit Weihwasser besprengte. Als Lilyth unter den kalten Tropfen zusammenzuckte, konnte sich Jean ein Schmunzeln nicht verkneifen. Mancher hätte es als erste Abwehrreaktion des Dämons gewertet, doch er glaubte nicht, dass dieser es ihnen so leicht machen würde.
Der Abbé kniete nieder und begann auf Lateinisch zu beten: »Kyrie eleison – Herr, erbarme dich.«
Die ältere Dame, die auf Lilyths anderer Seite Platz genommen hatte, und der kräftige Mann antworteten: »Christe eleison – Christus, erbarme dich.«
»Kyrie eleison. Christe audi nos.«
Jean stimmte nicht in die Antworten mit ein, obwohl er sie auswendig kannte. Diese Zeiten waren vorbei. Nie wieder würde er den Gott anflehen, der weder seine Schwester noch seine Eltern gerettet hatte, als sie ihr Heil bei ihm suchten. Er war allein in seinem Kampf, wusste Gott oft genug nicht an seiner Seite und würde dennoch weitermachen.
Im Wechselgesang zwischen dem Priester und seiner kleinen Gemeinde schweiften Jeans Gedanken ab. Was würde Sophie mit den Dingen anfangen, die er ihr erzählt hatte? Ich hätte meine Meinung für mich
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