Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Gaillard setzte dem Dämon weiter zu. »Per eum, qui habet potestatem mittendi te in gehennam – bei dem, der die Macht besitzt, dich in die Hölle zu werfen: Nenne deinen Namen!«
»Kezef«, zischte es aus Lilyths Mund.
Zorn? Er konnte sich nicht erinnern, jemals von einem Dämon dieses Namens gehört zu haben. Obwohl … Gab es in der jüdischen Überlieferung nicht einen Todesengel, der …
Etwas blitzte auf, als Lilyths rechte Hand plötzlich in die Höhe fuhr.
»Hi, Soph!«, tönte Laras fröhliche Stimme aus dem Handy. »Deine SMS war irgendwie komisch. Alles in Ordnung bei dir?«
Nein, und ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie ich dir das erklären soll.
»Sophie? Bist du noch dran?«
»Doch, doch, ja, aber der Lärm auf der Straße ist hier so laut. Ich verstehe dich kaum.« Das war wenigstens nicht gelogen.
»Ja, ich hör’s im Hintergrund«, rief Lara, um das Gewirr aus Motorgeräuschen und Menschenstimmen zu übertönen. »Ist wohl gerade ungünstig.«
»Ja«, bestätigte Sophie erleichtert, dass ihre Freundin so schnell aufgab. »Ich rufe dich später zurück, okay?«
»Kann aber sein, dass ich dann nichts mitkriege«, warnte Lara. »Wir gehen heute ins Kino.«
Meine Güte, es muss Ewigkeiten her sein, dass ich zuletzt im Kino war. Wahrscheinlich, als Rafe noch lebte … Sophie wusste nicht einmal, welche Filme zurzeit liefen. »Macht nichts, ich erwisch dich schon irgendwann. Viel Spaß heute Abend!«
»Danke! Ciao!«
Wann auch immer ich mich aufraffen werde, dir von Engeln und Dämonen zu erzählen. Vielleicht konnte sie das ganze Thema Männer umschiffen, indem sie mehr von ihren Bewerbungen und der geringen Resonanz berichtete. Madame Guimard schien recht damit zu haben, dass sich vor dem Ende der Sommerferien in französischen Firmen nicht allzu viel tat. Auch im Internet hatte sie nur drei Antworten bekommen: eine Absage, eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in der kommenden Woche und eine Eingangsbestätigung, in der man sie auf später vertröstete.
Ursprünglich hatte sie nach ihrem Abstecher ins Internetcafé dem Laden einen Besuch abstatten wollen, um für Madame Guimard nach dem Rechten zu sehen. Pascal hatte den Auftrag bekommen, ohne sie weiterzustreichen, bis die Hitzewelle vorüber war, doch gerade seine Flirtversuche hätte sie jetzt nicht ertragen. Sie wollte nur noch nach Hause, sich einfach in ihrem Zimmer einigeln und in Ruhe darüber nachdenken, was es für sie bedeutete, dass Jean derselben Ansicht war wie Rafe.
Wie vorausgesagt war die Luft feuchter geworden. Der Himmel über der Stadt hatte das strahlende Blau der letzten Tage verloren, die Sonne sich mit feinem Dunst verschleiert. Ob ich mir jetzt doch einen Brautschleier zulegen sollte? Vielleicht hält es Rafe ja tatsächlich ab. Und wenn nicht, hatte sie schon das erste Kleidungsstück für ihre Vermählung mit dem Teufel. Rafe war sicher der Meinung, dass sie nicht mehr dafür brauchte. Himmel! Wurde sie wirklich schon so zynisch wie er?
Als sie die Wohnungstür aufschloss, war sie verschwitzt und außer Puste, aber keinen Schritt weiter. Vom Knirschen und Quietschen des Parketts unter ihren Schritten abgesehen, war es sehr still. Kein quäkendes Radio aus der Küche, keine leise kratzende Klassik-Platte aus dem Salon. Im Vorübergehen warf sie einen Blick durch die offenen Türen. »Madame Guimard?«
Alles blieb ruhig.
»Madame Guimard, sind Sie zu Hause?« Unruhe erfasste Sophie. Bei einer älteren Dame konnte man nie wissen. Systematisch lief sie noch einmal alle Zimmer ab, vergewisserte sich, dass Madame Guimard nicht an einer schlecht einsehbaren Stelle hilflos am Boden lag. Einerseits war sie erleichtert, sie nicht zu finden. Andererseits fühlte sie sich ein wenig verlassen. Seit sie eingezogen war, hatte sie nie in eine leere Wohnung heimkommen müssen.
Freu dich lieber, dass du in Ruhe nachdenken kannst, sagte sie sich und ging in die Küche, um etwas zu trinken. Erst jetzt entdeckte sie den Zettel auf dem Tisch. »Bin im Laden.« Die Neugier hatte Madame Guimard also doch aus dem Haus getrieben. Oder die Sorge darüber, was ein junger Hallodri wie Pascal allein in ihrem Geschäft anstellen mochte.
Sophie trat zum Schrank hinüber, um sich ein Glas herauszuholen, als ihr Blick auf den Brotkorb auf der Anrichte fiel. Ein angeschnittenes Baguette lag darin – und das Messer. Sofort wurde ihr der Hals eng. Sie wich zurück, als könne die gezähnte Klinge sie
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