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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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Porträts der berühmten Philosophen, die einst dort debattiert hatten, haftete noch der Glanz vergangener Jahrhunderte an. Madame Guimard hatte ein Kostüm getragen, das Sophie an Fotos von Jackie Onassis erinnert hatte, und auch wenn es ebenso alt sein mochte, war es immer noch schick. Die kinnlangen, graublonden Haare perfekt frisiert und das strenge Gesicht dezent geschminkt, hatte sie den Inbegriff einer alten Dame von Welt verkörpert. Auch Madame Clément war in einem wie maßgeschneidert wirkenden Kostüm erschienen, und Sophie fragte sich noch immer, wie es die Französinnen schafften, stets kultiviert auszusehen und trotz des guten Essens schlank zu bleiben. Es war so unfair, dass es nur in den Genen liegen konnte. Neben Madame Clément, die sie auf etwa vierzig Jahre schätzte, und Madame Guimard hatte sie sich wie das hässliche junge Entlein gefühlt, dem erst noch das schöne Gefieder wachsen musste. Dabei hatte sie ihr bestes Sommerkleid getragen und ihr Haar auf Hochglanz gebürstet.
    Durch den Türspalt stieg ihr Kaffeeduft in die Nase. Schluss mit der Träumerei! Rafe war irgendwo dort draußen.
    Sie schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Ihre Gedanken eilten an die Seine voraus. Den ganzen Tag würde sie Zeit haben, um sämtliche Kais abzulaufen, und wenn das nicht genügte, blieb noch der Sonntag. Falls es schlecht lief, wäre sie viele Stunden unterwegs. Bequeme Schuhe waren Pflicht.
    Sie griff nach ihrem Handy, das ausgeschaltet auf dem Nachttisch lag, wobei ihr Blick auf das kleine Blatt Papier darunter fiel. »AKKU LADEN!« stand in dicken roten Lettern darauf. Zettel! Genau! Daran wollte ich mich erinnern. Madame Clément hatte sie für den kommenden Donnerstag, 15.00 Uhr, zu einem Bewerbungsgespräch in ihre Firma eingeladen. Das durfte sie auf keinen Fall vergessen. Sie riss ein Stück von einem Blatt ihres Schreibblocks ab und kritzelte Datum und Uhrzeit darauf. Die Adresse konnte Madame Guimard ihr später geben.
    Nachdem sie die Pin-Nummer eingegeben hatte, verkündete das Handy piepsend den Eingang einer SMS. Neugierig öffnete sie die Nachricht, während sie mit den Füßen nach ihren Pantoffeln fischte. Der Kaffeegeruch riss ein immer größeres Loch in ihren Magen. »Sorry, dass ich grob zu dir war«, schrieb Rebecca. »Rafes Tod ist auch für mich noch ein heikles Thema. Ich mach’s wieder gut! Becca.«
    Sophie dachte immer noch über die drei Sätze nach, als sie zwei Tassen Kaffee und eine große Portion Brioche später die Treppen hinunterlief. Aber sosehr sie auch versuchte, verborgene Botschaften hineinzulesen, blieb es doch wahrscheinlicher, dass Rebecca ihren Bruder tatsächlich für tot hielt und sie lediglich auf ein Eis einladen wollte, anstatt ihr die Geschichte über Rafes waghalsige Flucht aus dem kolumbianischen Hinterland zu enthüllen. Es war an ihr, die Wahrheit herauszufinden.
    Sie zog den Stadtplan aus der Tasche, um sich noch einmal den Weg anzuschauen. Die Route, zu der sie sich entschlossen hatte, war denkbar einfach, doch die genaue Lage der vielen Brücken rund um die Inseln war ihr noch nicht so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sich einzig auf ihren inneren Kompass verlassen wollte. Außer ein paar Schleiern, die sich allmählich auflösten, war keine Wolke am Himmel. Vom Boulevard Saint-Germain dröhnte ihr Verkehrslärm entgegen, und eine Umzugsspedition transportierte mit einer waghalsig hohen Kreuzung aus Aufzug und Feuerwehrleiter Möbel aus einer Dachwohnung fünf Stockwerke über ihr. Dieselabgase mischten sich mit dem köstlichen Duft aus der Bäckerei. Beiläufig nahm sie wahr, dass schon etliche Tische der Straßencafés besetzt waren. Der orientalische Ladenbesitzer an der Ecke füllte seine Auslagen mit frischem Obst auf, das dem Geruch seiner Gewürze eine fruchtige Note hinzufügte. Menschen hasteten oder schlenderten an ihr vorüber, während sie nur Augen für die Karte hatte.
    Abrupt blieb sie stehen, faltete den Plan zusammen und stopfte ihn in die Tasche zurück. Wie konnte sie so dumm sein, nicht auf die Passanten zu achten? Wenn der Mann, den sie gesehen hatte, nicht Rafe war, sondern ihm nur zum Verwechseln ähnlich sah, hätte er schon ein Dutzend Mal an ihr vorbeilaufen können! Rasch blickte sie sich um und ging aufmerksamer weiter, sah jeden an, der ihr entgegenkam. Als sie an der Ampel stand, um den Boulevard zu überqueren, musterte sie die Wartenden auf der anderen Straßenseite und auch die

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