Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Brückengeländer auf, als wolle sie jeden Schiffer zur Andacht ermahnen, der sich stromabwärts der Kathedrale näherte.
Sophie hielt an, um Atem zu schöpfen und eine Entscheidung zu treffen. Aus dem Augenwinkel sah sie den Unbekannten die unterste Stufe betreten.
Es ist albern, davonzurennen. Mir kann nichts passieren. Vielleicht bildete sie sich alles nur ein, und der Mann folgte ihr nicht einmal. Entschlossen wechselte sie die Straßenseite und schickte sich an, die Brücke zu überqueren. Von dort oben hatte sie einen guten Blick über die Schiffe jenseits der Pont de la Tournelle. Es handelte sich um kleine, teils zu Hausbooten umgebaute Lastkähne, doch der gesuchte war nicht darunter. Die aufkeimende Enttäuschung ging in ihrer Sorge unter, als sie entdeckte, dass der Fremde zwar auf der anderen Straßenseite geblieben war, aber ebenfalls den Weg auf die Île Saint-Louis eingeschlagen hatte. Erneut ermahnte sie sich, ruhig zu bleiben. Es konnte immer noch Zufall sein. Womöglich wohnte er in der Gegend oder hatte ein Hotelzimmer und war ein ebenso harmloser Spaziergänger wie sie.
Sie zwang sich, weiterzugehen, als gäbe es ihn nicht. Es war schwer, der Versuchung zu widerstehen, doch sie warf keinen Blick mehr über die Schulter, bis sie die Insel durchquert hatte und die Häuser wieder die Sicht auf die Seine freigaben. Zu beiden Seiten des Flusses war weit und breit kein Schiff zu entdecken. Stattdessen kündigten jenseits der Pont Marie blaue Banner und Sonnenschirme die baldige Eröffnung des Pariser Strandvergnügens an.
Sophie wünschte, sie hätte ihren Fotoapparat mitgenommen, denn die Kamera wäre ein guter Vorwand gewesen, um in der Gegend herumzuknipsen und dabei ihren Verfolger im Auge zu behalten. Es half nichts, sie musste wieder in seine Richtung schielen, während sie über die Brücke ging. Aber was verriet seine Anwesenheit schon, außer dass er auf dem Weg ins Marais war?
Von der Pont Marie aus erstreckte sich stromabwärts ein von Schiffen freies Ufer, so weit Sophie es trotz der vielen Brücken erkennen konnte. Obwohl nicht nur die Sonne und die Treppen sie ins Schwitzen gebracht hatten, dämmerte ihr, dass sie sich die Füße wund laufen würde, bevor sie die nächsten Anlegestellen zu Gesicht bekam – von ihrem geplanten Marsch bis zum Eiffelturm ganz zu schweigen. Gab es hier eine passende Métro-Verbindung oder einen Bus? Um ihren Vorsprung nicht einzubüßen, hantierte sie mit dem Stadtplan, ohne stehen zu bleiben, und stieß beinahe mit einer älteren Dame zusammen, deren Schoßhündchen sie dafür hysterisch ankläffte.
»Pardon«, murmelte Sophie in den verärgerten Wortschwall der Französin, der gleichermaßen ihr und dem Terrier zu gelten schien. Irgendwie gelang es ihr, um das Tier zu tänzeln, ohne die Karte völlig aus den Augen zu lassen. Auf dieser Seite der Pont Marie war tatsächlich eine Métro-Station eingezeichnet. Von dort konnte sie mit der Linie 7 nach Pont Neuf fahren und die Suche an der vielversprechendsten Stelle wieder aufnehmen. Jetzt musste nur noch dieser Typ ins Marais verschwinden.
Sie entdeckte das grün-weiße Métropolitain-Schild auf der anderen Straßenseite und ärgerte sich, als die Fußgängerampel ausgerechnet in diesem Moment auf Rot sprang. Wieder glaubte sie, den bohrenden Blick auf sich zu spüren, während sie inmitten einer gut gelaunten Gruppe deutscher Senioren warten musste, bis der Strom französischer Kleinwagen, röhrender Motorräder und bunter Lieferfahrzeuge aller Größen wieder zum Erliegen kam. Es war, als könne sie mit einem ihr bislang unbekannten Sinn wahrnehmen, wie der Mann hinter ihr näher kam. Jeden Augenblick würde sein Schatten neben ihr auftauchen, sein Atem ihren Nacken streifen.
Entsetzt fuhr sie herum und erntete einen Strauß fragender, nachsichtiger Blicke aus den Reihen der älteren Herrschaften hinter ihr. Der Unbekannte stand noch dort, wo das Brückengeländer auslief, doch die schwarzen Gläser waren direkt auf sie gerichtet. Kein Wunder. Alle glotzen mich an, weil ich mich so seltsam benehme, versuchte sie sich einzureden und wandte sich wieder der Ampel zu, die endlich Erbarmen zeigte. Nun würde sich erweisen, ob er ihr wirklich folgte.
Sophie sah absichtlich nicht zurück, bis sie den richtigen Bahnsteig erreicht hatte. Sie ging nicht weit, um Spielraum zu behalten, wollte ihn notfalls abhängen, indem sie schnell in einen anderen Waggon einstieg als er. Schließlich konnte er nicht
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