Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Schreck, den sie ihm eingejagt hatte, wollte er ihr trotzdem gern die Ohren lang ziehen, aber wenigstens wusste er jetzt, dass es ihr gut ging. Der Glaube daran hielt ungefähr fünf Stunden vor, überstand die Fahrt mit der Métro, einen Besuch im L’Occultisme und eine einsame Mahlzeit in seiner großen Wohnung, die ihm oft so leer vorkam, dass er Alex bereits ein Zimmer zur Miete angeboten hatte. Einem anderen Mitbewohner hätte er weder sein nächtliches Kommen und Gehen noch die gelegentlichen Besuche der Polizei zumuten können. Abgesehen davon, dass ihn jeder andere für einen Irren gehalten hätte.
Als der Nachmittag voranschritt, begann er sich darüber zu wundern, dass Sophie kein bisschen neugierig zu sein schien. Gestern noch hatte es scheinbar nichts Wichtigeres für sie gegeben, und nun fragte sie nicht nach, ob er etwas herausgefunden hatte? Ging es Madame Guimard so schlecht? War die alte Dame vielleicht sogar ins Krankenhaus gebracht worden?
Wieder versuchte er, Sophie per Handy anzurufen. Eine freundliche Stimme erklärte ihm, der gewünschte Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar. Nachdenklich sah er aus dem Fenster auf die Seine hinab, deren Wasser so grau war wie der mittlerweile wolkenverhangene Himmel. Wenn sie Madame Guimard tatsächlich in eine Klinik begleitet hatte, war es nicht verwunderlich, dass sie das Handy ausschalten musste. Doch sein Misstrauen war endgültig geweckt. Er suchte Madame Guimards Nummer im Telefonbuch und rief an.
»Ja, hallo?«, meldete sich eine weibliche, eindeutig ältere Stimme.
»Madame Guimard? Mein Name ist Jean Méric. Ich bin ein Freund von Sophie. Könnte ich sie bitte sprechen?«
»Ich bedaure, Monsieur Méric. Sophie ist nicht da.«
»Geht es Ihnen denn wieder gut? Sie sagte, die Hitze würde Ihnen sehr zu schaffen machen.«
»Was? Mir? Nein, das müssen Sie falsch verstanden haben. Sophie war es, die einen Zusammenbruch hatte.«
Warum hat sie mir das nicht gesagt? »Wann? Heute?«
»Nein, nein, vor zwei Tagen. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«
»Dann war sie seit heute Morgen nicht mehr bei Ihnen?«, erkundigte er sich besorgter denn je.
»Ja, ich habe sie seit dem Frühstück nicht mehr gesehen. Warum fragen Sie? Waren Sie mit ihr verabredet?« Nun klang auch sie beunruhigt.
»Ich war mit ihr in Montmartre und dachte, sie sei von dort nach Hause gefahren. Würden Sie ihr ausrichten, dass sie mich bitte zurückrufen soll, wenn sie heimkommt?«
»Sicher, werde ich machen.«
»Vielen Dank, Madame. Au revoir!«
»Au revoir, Monsieur!«
Sie hat mich angelogen. Dafür konnte es nur einen Grund geben. Der verfluchte Dämon musste sie in Montmartre aufgespürt und irgendetwas mit ihr vorgehabt haben, wovon er nichts wissen sollte.
»Noch heute wird sich alles entscheiden.«
Dass sie sogar ihr Handy abgeschaltet hatte, verhieß nichts Gutes. Der freie Wille mochte heilig sein, doch er konnte nicht tatenlos herumstehen, während sie im Begriff war, den schlimmsten Fehler ihres Lebens zu begehen. Vielleicht gab sie in diesem Augenblick bereits ihrer Sehnsucht nach, verlor sich an das Böse, das sich ihres Körpers und ihrer Seele bemächtigte.
Er schnappte sich seinen Mantel, flog förmlich die Treppen hinab und hetzte über die Pont de la Tournelle. Die schwüle Luft glitt nur zäh in seine Lungen, schien sie zu verstopfen und seinen Brustkorb eng und schwer zu machen. In der verletzten Hand pulsierten Stiche. Sein Herz pochte ungewohnt heftig gegen die Rippen, während er die Rue du Cardinal Lemoine entlangrannte. Schon rann ihm der Schweiß am Körper herab, klebte Hemd und Hose an die Haut, was ihn noch mehr behinderte. Ich bin ein Idiot! Ich hätte sofort wissen müssen, dass etwas nicht stimmt. Was, wenn er zu spät kam? Die Angst trieb ihn an, peitschte ihn hinauf, der Rue Thouin entgegen – dem einzigen Anhaltspunkt, den er hatte. Es musste sich jetzt bezahlt machen, dass er dem Dreckskerl so lange gefolgt war, sonst war alles verloren. Wenn er sie dort nicht fand, wo in dieser riesigen Stadt sollte er sonst suchen?
Er stieß Touristen zur Seite, die gemütlich dem Place de la Contrescarpe entgegenbummelten, zu atemlos, um Entschuldigungen auch nur zu murmeln. Entgegenkommende Passanten warfen ihm befremdete Blicke zu. Manche gaben ihm freiwillig den Weg frei, zwischen anderen musste er sich hindurchdrängen. Flüche und empörte Ausrufe folgten ihm, doch es war ihm gleich.
Endlich kam das Haus in Sicht, die alte
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