Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Eingangstür, das bunte Sammelsurium der Klingeln und Schildchen. Er musste sich mit einer Hand an der Mauer abstützen, um nicht zu schwanken. Keuchend überflog er die Namen. Ein neuer, unleserlicher. Das musste es sein, ganz oben unterm Dach.
Die Tür war nicht abgeschlossen. Jean stürmte die Treppe nach oben. Das alte Holz krachte bedenklich unter seinen Füßen, seine Schritte hallten auf den hohlen Stufen wie Hammerschläge. Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm starrte ihn entgeistert an, als er an ihr vorübersprang. Ein weiteres Stockwerk … noch eines … Er prallte zurück, als er den Dämon in der Tür stehen sah. Ein Werbefotograf hätte ihn nicht männlicher und ätherischer zugleich in Szene setzen können, doch in seiner Haltung lag auch eine Drohung. Jean richtete sich unwillkürlich auf. Die dunklen Augen musterten ihn kalt.
»Wo ist Sophie?«
»Sag du es mir! War sie nicht zuletzt bei dir?«
»Hältst du mich für dumm?«, fuhr Jean auf. So wie der Kerl das wusste, musste er auch wissen, wo sie jetzt war. »Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?«
»Dinge, von denen du nur träumst, Méric. Aber als ich sie nicht mehr finden konnte, hatte ich ehrlich befürchtet, du könntest sie dazu gebracht haben, sich unter deinen Schutz zu stellen. Offenbar ein Irrtum. Du hast sie verloren. Wo? An wen?«
Seine Entschlossenheit wankte einen Augenblick, dann erinnerte er sich daran, dass ihm der Dämon jedes Wort im Mund umdrehen würde, um von sich abzulenken. »Ist sie hinter dir in diesem Zimmer? Ich will sie sehen. Exi, serpens antique! Exi cum omni fallcia tua!« Er ließ die Hand zwischen die Falten seines Mantels gleiten.
»Was kommt jetzt? Ein weiteres Kreuz? Weihwasser?« Mit einem spöttischen Lächeln trat Gadreel zur Seite. »Bitte, komm rein! Dann kannst du gleich das andere auflesen, das immer noch auf dem Fußboden liegt.«
Jean zögerte nicht, doch er behielt den Dämon genau im Auge und die Hand an der Weihwasserflasche, bis er mitten im Zimmer stand. Keine Spur von Sophie.
Er schielte sogar unter das Bett, als er in die Hocke ging, um das Kreuz aufzuheben, das er ihr geliehen hatte. Noch während er sich wieder erhob, traf ihn ein Schlag in den Magen. Einen Sekundenbruchteil flog er, dann prallte er mit dem Rücken gegen die Wand, sein Kopf knallte gegen die schräge Decke. Schmerz schoss wie ein dunkler Blitz durch seinen Schädel. Die Beine gaben unter ihm nach, als seine Füße auf den Boden trafen. Benommen sank er an der Wand zusammen, doch seine Hand umklammerte noch immer die kleine Plastikflasche. Daumen und Zeigefinger drehten wie von selbst am Verschluss, während der Dämon von der Tür her auf ihn zukam.
» Du hast sie verloren! Ich will wissen, wo und wann! Dann kann das alles glimpflich für dich ausgehen.«
Jean lachte leise auf. War das zu fassen? Der Scheißkerl braucht mich wirklich. »Ich soll ausgerechnet dir behilflich sein? Vergiss es! Ich werde sie schon finden.« Er ließ die Hand vorschnellen. Weihwasser spritzte. »Non resistas! Effugare!«
Mit einem unmenschlichen Fauchen wich Gadreel zurück. Hass loderte in seinen Augen. Etwas packte Jeans Nacken und hob ihn an. Hastig stützte er sich mit den Füßen ab, um nicht zu stürzen, warf sich vor, doch eine zweite unsichtbare Hand presste ihn zurück. Beschwörend raunte er: »Reversi sunt septuaginta … Die zweiundsiebzig kehrten zurück und berichteten voll Freude: Herr, sogar die Dämonen gehorchen uns, wenn wir deinen Namen aussprechen. Da sagte er zu ihnen …«
»Wenn du weißt, wo sie sein könnte, sag es mir, und ich lasse dich gehen!«
Der Druck um sein Genick verstärkte sich. »… Seht, ich habe euch die Vollmacht gegeben, auf Schlangen und Skorpione zu treten und die ganze Macht des Feindes zu überwinden. Nichts wird euch schaden können …«
»Aber er wird ihr schaden!«, brüllte der Dämon. »Verflucht! Was glaubst du denn, wer sie vor mir verstecken kann, wenn du es nicht bist?«
»Lass mich gehen, und ich werde sie retten«, bot Jean an, doch ihm kamen Zweifel. Er hat recht. Ich habe keine Zeit zu verlieren.
»Du wirst mir sagen, was du weißt, oder ich durchwühle dein Gehirn so lange, bis du mich deine Gedanken freiwillig lesen lässt.«
Die Hand in seinem Nacken wanderte höher, Krallen bohrten sich in die Haut.
»Dieser Segen kann nicht mit Gewalt gebrochen werden«, keuchte er. »Willst du deine Zeit mit mir vertrödeln, bis du einen Gegenfluch gefunden
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