Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
haben würde. Vielleicht sollte sie sich wirklich wenigstens erzählen lassen, wie die Verwandlung nach Kafziels Meinung möglich war. Solange er nicht versucht, mich in einen einsamen Hinterhof zu locken …
»Das liegt mir fern«, behauptete er. »Gehen wir!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um.
Sophie folgte ihm zu den Wendeltreppen, die dem Abstieg vorbehalten waren. Sie mussten einen Moment anstehen, um die Stufen betreten zu können, wobei Sophie weiterhin sorgsam Abstand hielt. Schon die Vorstellung, ihn zu berühren, bereitete ihr trotz der Hitze eine Gänsehaut.
»Wir sehen uns unten«, sagte er über die Schulter und entschwand um die enge Kurve. Seine Schritte waren von einem Augenblick zum nächsten nicht mehr zu hören.
Neugierig beeilte sich Sophie, so weit es die schmale, ausgetretene Treppe zuließ, doch der Dämon war nicht mehr zu sehen. Langsamer, fast schon bedächtig stieg sie weiter hinab, überquerte das Dach zur anderen Seite hin, wo breitere Stufen im rechten Nebenturm bis in die Krypta hinabführten. Erneut fragte sie sich dabei, ob sie das Richtige tat, aber wieder kam sie zu dem Schluss, dass es nicht schaden konnte, ihn anzuhören. Es verpflichtete sie zu nichts. Und war es nicht tatsächlich seltsam, dass sie auf der Pont de la Tournelle bereit gewesen war, ihr Leben für eine sehr viel vagere Aussicht wegzuwerfen? An ihrer Lage hatte sich nichts Grundlegendes verändert. Rafe war immer noch tot, auch wenn er ein gefallener Engel war. Wieder mit ihm vereint zu sein, würde sie so oder so einen hohen Preis kosten.
»Du musst wissen, ob er es wert ist«, spottete Kafziel plötzlich hinter ihr. Beinahe wäre sie vor Schreck die letzten Stufen hinuntergefallen, taumelte die gebogene Wand entlang und fand erst am Fuß der Treppe ihr Gleichgewicht wieder. Der Dämon lachte nur. Was tat sie hier, dass sie ihn seine Spielchen mit ihr treiben ließ? Doch wenn sie die Augen schloss, fühlte sie noch immer Rafes Wärme unter ihren Fingern und seine Hand auf ihrer, sah in seine Augen, die sie so eindringlich angeblickt hatten. Wenn dieser Kafziel etwas wusste, das ihnen irgendwie weiterhalf …
Aber es gab auch noch Jean, fiel ihr auf, als sie sich mit dem Dämon in den Strom der Touristen einreihte, die von Sacré-Cœur zum nächsten Höhepunkt Montmartres weiterzogen.
»Dieser anmaßende Freund von dir ist vergebens hergekommen«, behauptete Kafziel. »Die Frau, die er sucht, ist tot. Du solltest dich an den Gedanken gewöhnen, dass ich eure einzige Hoffnung bin.«
Es störte sie, dass er sie ungefragt duzte, doch das interessierte ihn vermutlich nicht. Unsere einzige Hoffnung … Ihr fehlte die Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn das Gedränge vor ihnen kündigte bereits den Place du Tertre an. Genervte Lieferwagenfahrer versuchten, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen, um den Nachschub für die Lokale rund um den Platz abzuladen. Zeichner und Karikaturisten mischten sich mit Klemmbrettern unter den Armen unter die potenzielle Kundschaft und boten rasche Skizzen und Scherenschnitte an. Sophie lehnte kopfschüttelnd ab. Sie war mit Rafe hier gewesen, war mit ihm um das von kleinen alten Häusern umgebene Geviert geschlendert, das zu den berühmtesten Plätzen der Stadt gehörte. Dicht an dicht stellten Künstler hier im Schatten der Eschen ihre Bilder aus, während andere hinter Staffeleien saßen und gegen Geld Porträts zeichneten. Rafe hatte sie damals dazu überredet, Modell zu sitzen. Jetzt lag das Bild zusammengerollt auf dem Dachboden bei seinen Sachen, weil sie nicht mehr ertragen hatte, es anzusehen.
»Hier wird etwas frei.« Kafziel lenkte ihren Blick ins Innere des ersten Cafés gleich an der Ecke, wo hinter der Glasscheibe gerade eine Gruppe lachender Mädchen aufstand und nach ihren Handtaschen griff. Alle anderen Tische waren bereits besetzt. Durch Musik aus versteckten Lautsprechern und die hallenden Stimmen der Gäste war es drinnen kaum leiser als draußen. Es dauerte einen Moment, bis das Klingeln des Handys in Sophies Bewusstsein vordrang. Hastig zog sie es hervor und sah aufs Display: Jean. Was sollte sie ihm nur sagen?
»Geh nicht dran! Er wird wissen wollen, wo du bist, und hören, dass es ein Lokal ist«, warnte der Dämon.
»Aber ich muss ihm doch antworten!«
»Schreib ihm eine Nachricht, dass du nach Hause gerufen wurdest. Ein Notfall oder so.«
»Er könnte doch auch herkommen. Warum darf er nicht hören, was du mir zu sagen
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