Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
verstand sich von selbst, doch er konnte sie nicht einfach zwingen, wenn sie sich der Wahrheit verschloss. Die Frage war vielmehr, was an ihr oder Gadreel so besorgniserregend war, dass es jemand für nötig hielt, ihm eine Warnung zukommen zu lassen.
Noch einmal las er den Text. Jeder Halbsatz konnte ein Hinweis sein. Ging es um den Beginn einer neuen Form der Dämonenverehrung, die blutige Opfer erforderte? War Gâderêl ein Anführer unter den gefallenen Engeln und damit viel gefährlicher, als er bisher gedacht hatte? Oder glaubte der Überbringer gar, dass der Tag des Gerichts bevorstand?
Nachdenklich kratzte er sich am Kinn, aber auch wenn er noch Stunden hier brütete, würde er keinen Schritt weiterkommen. Er brauchte mehr Hinweise. Mechanisch warf er einen Blick auf die Uhr. Gerade mal kurz nach eins. Die Nacht hatte gerade erst begonnen, und die Intuition, der er über die Jahre zu vertrauen gelernt hatte, drängte ihn hinaus. Irgendetwas war unter den dunklen Mächten der Stadt im Gange.
Sophie wartete hinter der Haustür, bis Jeans Schritte verklungen waren. Erst dann beruhigte sich ihr Herzschlag so weit, dass sie wieder klar denken konnte – nur um sofort wieder in die Höhe zu schnellen. Hoffentlich folgte Jean Rafael nicht! Nach allem, was sie über Rafes neuen Lebenswandel und Jeans Fanatismus wusste, brachten sie sich womöglich gegenseitig um, wenn niemand da war, der sie davon abhielt. Sie musste Rafe warnen! Mit zittrigen Fingern fischte sie ihr Handy aus der Tasche. »Shit!«, zischte sie und biss sich vor Ärger und Sorge auf die Unterlippe. Sie hatte ihn noch nach seiner Nummer fragen wollen, doch dann war Jean aufgetaucht, und sie hatte es völlig vergessen. »Shit! Shit! Shit!«
Als sie sich mit dem Rücken gegen die Tür warf und den Kopf anschlagen ließ, gab es einen dumpfen Laut. Was sollte sie jetzt tun? Hinter den beiden herrennen? Dazu war es zu spät. Rafe war offenbar nicht auf direktem Weg nach Hause gegangen, sonst hätte er eine andere Richtung eingeschlagen. Wo sollte sie also nach ihnen suchen? Im dümmsten Fall lief sie falsch und brachte sich in einer abgelegenen Gasse wieder selbst in Gefahr. Ratlos starrte sie auf das nutzlose Handy. Es zeigte zwei entgangene Anrufe und eine neue Nachricht an. Womöglich Jean. Sie sah nach. Lara. Mit ihr hatte sie vor Aufregung am allerwenigsten gerechnet. Dann war wohl auch die SMS von ihr. »Warum hör ich nichts von dir? Wie lief die Prüfung? Was macht der Engelflüsterer?«
Er nervt, hätte sie am liebsten geantwortet, doch das würde bis zum Morgen warten können. Sie wusste ohnehin nicht, was sie Lara erzählen sollte, und sie war nicht in der Stimmung, sich darüber Sorgen zu machen. Hatte sie denn selbst eine Ahnung, was sie denken sollte? In Rafes Gegenwart war es nur zu leicht, alles zu vergessen. Schon die Erinnerung an seine Nähe rief eine neue Woge schmerzhaften Verlangens hervor, das sie fast auf die Straße hinaustrieb. Wieder ließ sie ihren Kopf gegen die Tür fallen. Autsch. Dass es wehtat, half ihr, das übermächtige Sehnen zurückzudrängen. Sie konnte jetzt nichts mehr tun und gehörte endlich ins Bett.
Als sie das Handy einsteckte, fiel ihr Blick auf den gefalteten Zettel, der noch immer unter der Tür lag. Seufzend bückte sie sich und hob ihn auf. Sollte sie diesen Schwachsinn überhaupt lesen oder gleich in die Tonne werfen? Doch ihre Neugier siegte. Oder war es jene leise Stimme, die dem neuen Rafe nicht traute? Auf jeden Fall besaß Jean eine leserliche, wenn auch nicht gerade elegante Handschrift. Es war merkwürdig, aber sie konnte seine leise, eindringliche Stimme beim Lesen hören, als spreche er ihr ins Ohr.
»Buch Henoch, Kapitel 7, Vers 10–11: Dann nahmen sie Weiber, ein jeder wählte sie sich; ihnen begannen sie sich zu nahen und ihnen wohnten sie bei (…). Und die Weiber empfingen und gebaren Riesen.«
Riesen?
»Kapitel 15, Vers 8: Doch die Riesen, welche geboren sind von Geist und von Fleisch, werden auf Erden böse Geister genannt werden (…). Böse Geister werden hervorgehen aus ihrem Fleisch (…).«
Geister?
»Ich bitte Sie, Sophie, lassen Sie sich nicht auf ihn ein.«
Mit jeder Minute, die verging, wuchs Jeans dunkle Ahnung. Immer, wenn das Böse unmaskiert in seiner Umgebung wirkte, empfand er diese innere Unruhe, die zugleich Klarheit war. Sie trieb ihn hinaus – jedes Mal aufs Neue. Wie unter Zwang musste er nach der Quelle des Übels suchen. Es war, als
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