Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
würde er in solchen Momenten erneut in seinem Elternhaus erwachen, in die unnatürliche Stille lauschen und wissen, dass etwas Schreckliches geschehen war. Er streifte durch die nächtlichen Straßen der Île Saint-Louis, als wandere er noch einmal durch die Räume des Hauses, das den Atem anzuhalten schien.
Die Wasser der Seine flossen lautlos und dunkel unter der Pont Louis Philippe dahin. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, lief er über die Brücke mit ihrem weißen Steingeländer und den sich nach oben verjüngenden, gusseisernen Laternen. Er nahm die Nachtschwärmer, die Musikfetzen, die Bars und ersten schließenden Lokale kaum wahr, während er den breiten Quai de l’Hôtel de Ville und die schmalere Rue de l’Hôtel überquerte. Als der erste Schrei ertönte, befand er sich mitten auf der Straße. Die ferne, in ihrem enthemmten Grauen unmenschliche Stimme drang ihm unter die Haut, brachte die Haare auf seinen Armen dazu, sich unter Hemd und Mantel aufzurichten. Die wenigen Passanten drehten sich mit entsetzten Gesichtern nach dem Laut um, dem unmittelbar ein weiteres Kreischen folgte. Einige blieben stehen, andere beschleunigten ihre Schritte, sahen zu, dass sie wegkamen.
Jean war es gleich. Sie wären ihm ohnehin keine Hilfe. Er rannte los, auf die Schreie zu. Linker Hand erhoben sich die Türme und Dächer der alten Kirche Saint-Gervais über einen Wall aus Bäumen. Zur Rechten säumten alte Häuser mit vereinzelten bunten Fassaden aus Holz und Glas die kopfsteingepflasterte Gasse. Es ging bergauf, auf ein mit Efeu umranktes Haus zu, das den Blick in die engere Hälfte der Rue des Barres versperrte. Die Straßenlaternen hingen hier an gebogenen Haltern von den Häusern. Kein Mensch war zu sehen. Jeans Schritte hallten von den Wänden und aus einem säulenflankierten Eingang neben der Kirche wider.
Ein neuerliches Kreischen ging für einen Augenblick in gurgelndes Stöhnen über, dann war es still. Jean hielt inne, lauschte. Kein Geräusch drang mehr aus der Gasse, deren alte Bauwerke eine Vielzahl dunkler Winkel boten. Er zog seine Taschenlampe aus dem Mantel, schaltete sie ein und rückte wachsam vor, leuchtete in jede Nische.
Etwas Rotes glänzte auf dem grauen Pflaster. Es floss unter einem Gitter hervor, das einen Durchgang versperrte. Jean richtete die Lampe auf den Boden dahinter. Blut sammelte sich um einen niedergestreckten Körper. In einer erschlafften Männerhand lag noch das blutige Messer. Er ließ das Licht über den Toten wandern. Tiefe Schnitte klafften in Haut und Kleidung. Vielleicht bildeten sie ein Muster. Er würde es fotografieren müssen, um sie in Ruhe zu studieren. Der Lichtstrahl erreichte das schmale und dennoch ein wenig schwammige Gesicht. Jean nickte ihm einen stummen Gruß zu. Paktierer kannst du mit leeren Zetteln täuschen. Dämonen nicht.
Wieder fragte er sich, was der Mann ihm hatte sagen wollen. Was war den dunklen Mächten so wichtig, dass sie einen Verräter so ungewöhnlich schnell, unverstellt und grausam bestraften? Sie mussten befürchtet haben, er werde noch mehr enthüllen, wenn er am Leben blieb.
Während Jean die Lampe einsteckte und die Digitalkamera aus einer weiteren, zusätzlich eingenähten Tasche seines Mantels holte, drang das Geheul der Polizeisirene in sein Bewusstsein. Rasch aktivierte er den Blitz und schoss ein paar Fotos aus verschiedenen Winkeln, so weit das Gitter dies zuließ.
Hastige Schritte näherten sich. Gerade noch rechtzeitig drehte Jean ihnen den Rücken zu, um ungesehen die Speicherkarte aus der Kamera zu nehmen und in ein unauffälliges Fach seines vermeintlich zerschlissenen Gürtels zu schieben.
»Polizei!«, rief eine aufgeregte Frauenstimme. »Stehen bleiben und langsam umdrehen!«
S ophie hatte immer noch keine Idee, was sie Lara erzählen sollte, aber sie konnte sich nicht ewig vor diesem Gespräch drücken. Wenn sie auf die SMS nicht reagierte, würde sich Lara Sorgen machen und so oft klingeln lassen, bis sie den Anruf endlich annahm. Natürlich konnte sie ihr Handy einfach ausschalten, aber dann geriet ihre Freundin wahrscheinlich in Panik und alarmierte ihre Eltern, die daraufhin Madame Guimard anrufen würden. Nein, so wenig es ihr auch gefiel, sie musste sich unbedingt bei ihr melden.
»Hi, Soph! Hattest du wieder vergessen, dein Handy aufzuladen oder so? Ich hab gestern zweimal versucht, dich anzurufen, und dann noch ’ne SMS geschickt!«, sprudelte Lara hervor.
»Ja, hab ich gesehen. Sorry, aber da
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