Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
abgesehen, war das Ufer verlassen, aber auf den Hausbooten, die hier vertäut lagen, saßen noch Leute beisammen oder unter Deck vor dem Fernseher, dessen Flimmern durch die Bullaugen blitzte. Vor ihnen wölbte sich die Pont de la Tournelle in flachem, weitem Bogen über die Seine, und die schlanke Statue Sainte Genevièves deutete wie ein mahnender Zeigefinger zum Himmel empor.
»Rue Jean de Beauvais.« Ausgerechnet Jeans Namen aussprechen zu müssen, verursachte ein ungutes Gefühl in ihrem Magen. Dafür gibt es keinen Grund! Diese Brücke war der beste Beweis. Wäre Rafe nicht rechtzeitig aufgetaucht, hätte sie sich umgebracht. So viel zu der Theorie, er brächte ihr Unglück. »Hier habe ich dich zum ersten Mal gesehen, seit … du weißt schon.«
»Hier?« Rafe folgte ihrem Blick zur Brücke hinauf.
»Ich stand auf der anderen Seite … am Geländer, als du auf diesem Schiff vorbeifuhrst. Der Lumière de Lutèce.«
»Am Geländer«, wiederholte er in einem seltsamen Tonfall, als ahne er, wo sie sich in Wahrheit befunden hatte. Aber woher sollte er das wissen?
Sophie schwieg, und ihre Schritte hallten von den Wänden wider, als sie unter der Brücke hindurchgingen.
»Das … muss eine ziemliche Überraschung für dich gewesen sein«, vermutete Rafe schließlich und sah noch einmal zum Geländer hinauf.
»Aber eine schöne.« Sie suchte seinen Blick, wollte ein Lächeln, irgendetwas, das ihr bestätigte, dass auch er es als glückliche Fügung empfand.
Doch er zog die Brauen zusammen und sah geradezu düster aus, während er den Kopf schüttelte. »Ich verstehe nicht, womit du das verdient hast.«
»Was?« Entgeistert ließ sie ihn los und blieb stehen. Sein Arm glitt von ihren Schultern. »Du findest mich also so schrecklich, dass du wünschst, ich hätte dich nicht gefunden?«
Wieder verzog er wie vor Schmerz das Gesicht, fand dieses Mal jedoch schneller zu einem sarkastischen Ausdruck. »Ja, sicher, deshalb war ich mit dir tanzen und …« Er zog sie mit einer Heftigkeit an sich, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. »Teufel auch! Ich will dich mehr, als du dir vorstellen kannst.«
Doch, das kann ich, dachte sie, als sein leidenschaftlicher Kuss ihre völlige Hingabe forderte. Es war, als senge sich die Hitze seiner Lippen durch ihren Körper, bis sie sie zwischen ihren Beinen spürte.
I ch hoffe, du nimmst mir das nicht übel, aber das kann ich Madame Guimard nicht zumuten«, beendete Sophie an der Ecke der Rue Jean de Beauvais ihre weitschweifige Erklärung. Im Grunde war ihr selbst ein Rätsel, wie sie es bis hierher geschafft hatte, ohne ihrem Verlangen nachzugeben. Hätte nicht in nahezu jeder dunklen Nische ein Stadtstreicher rumort, wäre sie womöglich längst schwach geworden.
Rafe lächelte schief. »Du verlangst jetzt nicht von mir, dass ich behaupte, es fiele mir leicht, oder?«
»Nein.«
»Gut! Tut es nämlich nicht. Aber ich wäre ein verdammt schlechter Liebhaber, wenn ich dich das zu sehr merken lassen würde.«
»Genau. Ein guter Liebhaber braucht …« Sie brach ab, als sie die Gestalt vor dem Haus entdeckte. Schreck fuhr ihr in die Glieder. Der Mann mit der Sonnenbrille! Er trat aus dem Schatten des Eingangs, sodass Licht auf sein Gesicht fiel, und sie atmete erleichtert auf. Es war Jean. Der dunkle Mantel hing ihm um die Schultern wie ein Umhang. Für einen Augenblick hätte er eine Figur aus einem Mantel-und-Degen-Film sein können, die blankzog, um den Gegner zum Duell zu fordern. Doch er sah ihnen nur abwartend entgegen, die Hände in den Taschen verborgen. Sie erinnerte sich daran, dass er bewaffnet war, und fühlte, wie sich ihre Eingeweide zusammenzogen.
»Ich muss mit Ihnen reden, Sophie«, eröffnete er ihr, noch bevor sie ganz herangekommen waren und ohne ihren Begleiter aus den Augen zu lassen.
Sie schielte rasch in Rafes Richtung. In seinem Gesicht stand eine deutliche Drohung, aber er fragte nicht, wer dieser Kerl war, der sie vor ihrem Zuhause abfing. Kannte er Jean? »Ich … möchte nicht unhöflich sein, aber ich kann mir schon denken, worum es geht. Habe ich nicht deutlich gesagt, was ich davon halte?«
»Sie haben noch nicht alles gehört.« Sein Blick schweifte kurz zu ihr und wurde weicher, bevor er sich wieder auf Rafael heftete. »Es ist wirklich wichtig. Vertrauen Sie mir!«
»Sie hat gesagt, dass sie nicht mit dir reden will, also verschwinde!«, befahl Rafe in einem Ton, der es Sophie eisig über den Rücken rieseln
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