Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Pfütze und schnappte sich das Handtuch, das über der Lehne eines anderen Stuhls hing. So hastig er Umschlag und Blätter auch abtrocknete, das Buch war verdorben. Er würde es Monsieur Delamair bezahlen müssen.
Mit einem gemurmelten Fluch legte er es auf eine saubere Ecke des Tischs. Eifersüchtig oder nicht, er hatte guten Grund, in dieser Sache einzugreifen. Zumindest fühlte er sich dazu berechtigt und verpflichtet, solange es sich auch noch vor seinen Augen abspielte. Er wünschte, Sophie würde das endlich verstehen, doch die Liebe machte sie offenbar blinder denn je. Spöttisch verzog er das Gesicht. Liebe. Als ob die Gefühle, die ein Dämon bei Frauen auslöste, etwas mit Liebe zu tun hatten. Sei nicht unfair! Sie glaubt, dass er ihr verschollener Verlobter ist. In ihrem Fall ging es tatsächlich um Liebe. Zu dumm nur, dass ihr das nicht helfen würde. Im Gegenteil. Ein gefallener Engel, der sich eine Frau nahm …
Von einer plötzlichen Eingebung getrieben, nahm er erneut das Buch zur Hand. Konnte es sein, dass zwischen beiden Vorfällen eine Verbindung bestand? Von allen biblischen Schriften und Apokryphen berichteten die Henoch-Verse am ausführlichsten über das Treiben fehlgeleiteter Engel auf Erden. Zu den schwerwiegendsten Untaten, für die sie schließlich gerichtet worden waren, hatte auch gehört, dass sie sich Frauen unter den Menschen genommen hatten. Es war weiß Gott nicht so, dass Dämonen dies seit biblischen Zeiten nicht immer wieder versucht und auch erreicht hatten, doch es war ein seltsamer Zufall, dass er ausgerechnet am selben Tag auf das Buch Henoch gestoßen worden und Zeuge eines solchen Verführungsversuchs geworden war. War in dieser Hinsicht etwas Größeres im Gange, als Sophies Geschichte ahnen ließ?
Er klappte das Buch auf, nahm den Zettel heraus und wendete ihn nachdenklich zwischen den Fingern. Nachdem er aus dem L’Occultisme heimgekommen war, hatte er schon alle ihm bekannten Mittel ausprobiert, um eine verborgene Nachricht zu entdecken. Hitze, Schwarzlicht, Scanner, nichts hatte ihn weitergebracht. Das Papier war – von seinem zunehmend zerknitterten und leicht angesengten Zustand abgesehen – jungfräulich. Im Grunde blieb nur eine Möglichkeit. Der Überbringer hatte den Zettel ganz bewusst zwischen zwei bestimmten Seiten des Buchs platziert, die die gewünschte Information enthielten. So konnte man ihm auch am wenigsten nachweisen.
Eine weitere Idee keimte in ihm auf. Er zog das Handy aus der Innentasche seines Mantels und wählte Alexandres Nummer. Es klingelte keine dreimal, bevor Alex’ Stimme ertönte. »Jean, was gibt’s?«
»Nichts Konkretes. Ich habe nur so einen Verdacht. Hat irgendjemand nach dem Buch Henoch gefragt oder eine Ausgabe davon gekauft?«
»Henoch? Nein. Bei mir nicht, und ich war bis Ladenschluss an der Kasse.«
»Gut, danke.« Er unterbrach die Verbindung und steckte das Handy wieder ein. Wenn niemand danach gesucht hatte, konnte es dann sein, dass er gar keine geheime Botschaft unter Dämonenpaktierern abgefangen hatte, sondern eine Nachricht, die von vorneherein für ihn bestimmt war? Die Warnung eines Insiders, der in gefährlicheren Kreisen verkehrte als Lilyth und auf keinen Fall mit ihm in Verbindung gebracht werden wollte?
Beunruhigt überflog er den Text der zwei Seiten, zwischen denen er den Zettel gefunden hatte. Die Prophezeiungen Henochs umfassten über hundert Kapitel, und nur ein Bruchteil handelte von den Legenden um die gefallenen Engel. Der Rest umfasste Parabeln, die die Menschen vom Sündigen abhalten sollten, und Visionen von der Beschaffenheit des Himmels, seiner Heerscharen und des Laufs der Gestirne.
Treffer. Schon auf der ersten aufgeschlagenen Seite stach ihm das Wort Dämon ins Auge. Er las Kapitel 19, Vers 1–2: Sodann sagte Uriel: Hier sind die Engel, welche Weibern beiwohnten, sich ihre Anführer bestimmend und zahlreich in ihrer Erscheinung, welche Menschen ruchlos machten und sie zu Irrtümern verleiteten, sodass sie Dämonen wie Göttern opferten. Denn an dem großen Tage wird ein Gericht kommen, in welchem sie gerichtet werden sollen, bis sie vernichtet sind, und auch ihre Weiber sollen gerichtet werden, welche von den Engeln des Himmels verführt wurden ohne Widerstand.
Konnte es im ganzen Buch eine Stelle geben, die besser auf Sophies Fall passte? Wohl kaum. Aber was sollte ihm das sagen? Dass er sie unbedingt davon abhalten wollte, zu einem dieser unglücklichen »Weiber« zu werden,
Weitere Kostenlose Bücher