Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
vor.
»Loslassen, sofort!«, befahl eine dunkle, aber eindeutig weibliche Stimme, die nicht so klang, als wäre sie Widerspruch gewöhnt.
Überrascht wandte sich Sophie zu der Frau um. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich ihr jemand genähert hatte, doch die Fremde stand nur zwei Schritte neben ihr. Sie war groß, schien förmlich zum Himmel aufzuragen, und zugleich schlank. Das schöne, ebenmäßige Gesicht blickte streng auf Antoine hinab, dessen Finger sich zögernd lösten. Blonde Locken umrahmten es einer strahlenden Aura gleich. Vor der Autorität, die sie ausstrahlte, fühlte sich Sophie wie ein Schulmädchen – unwissend, klein und schwach. Nur am Rande nahm sie wahr, dass die Frau eine Polizeiuniform trug.
Wie von selbst brachte sie mehr Abstand zwischen sich und Antoine, der die Gendarmin anstarrte wie eine Erscheinung.
»Nimm das Taxi dort!«, wies die Fremde sie an, ohne die Augen von dem überrumpelten Mann vor ihr zu nehmen, und deutete über die Straße, wo tatsächlich gerade eines hielt.
Eilig kam Sophie der Aufforderung nach.
»Du solltest besser aufpassen, mit wem du dich einlässt«, fügte die Stimme so laut und klar hinzu, als spreche sie direkt in ihrem Kopf. Ohne sich erklären zu können, warum, bildete sich Sophie ein, dass die Worte auf Rafe gemünzt waren.
»Ich glaube, so ein Hut steht mir.« Sophie betrachtete sich im Spiegel auf der Theke.
»Das ist ein Trilby«, erklärte Madame Guimard und legte einen Schwung sorgfältig zusammengelegter Seidenschals in einen Karton.
Kess zog Sophie die breite Krempe des Herrenhuts tiefer ins Gesicht, doch nun erinnerte sie der Anblick zu sehr an Gangster wie Al Capone, die das Chicago der Prohibitionszeit unsicher gemacht hatten. Rasch nahm sie den Trilby ab und setzte ihn auf einen Stapel Hüte anderer Größen. Von Kriminellen hatte sie die Nase gestrichen voll. Innerlich begann sie immer noch zu zittern, wenn sie daran dachte, wie die Halbglatze sie in dieses Auto hatte zerren wollen. Nie wieder wollte sie sich von Rafe in eine solche Lage bringen lassen. Sobald er wieder auftauchte, würde sie ein ernstes Wort mit ihm reden. Es wurde Zeit, ihm klar zu sagen, was sie von seinem neuen Lebenswandel hielt.
Mit einer Entschiedenheit, die nichts mit der Renovierung von Madame Guimards Laden zu tun hatte, zog und schob sie ein geleertes Regal von der Wand weg. Rafe hatte sie nun schon zweimal im nächtlichen Paris in Gefahr gebracht. Den ersten Zwischenfall, der ihr dank Jean nur einen Schreck eingejagt hatte, konnte sie ihm nicht ankreiden, da er nicht geahnt hatte, dass es sie überhaupt gab. Doch dieses Mal war er einfach verschwunden und hatte sie diesen Widerlingen überlassen. Das ging zu weit.
Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel und floh mit ein paar Hutschachteln vor Madame Guimards forschendem Blick ins Hinterzimmer, wo sie den wackligen Turm in einer Ecke abstellte. Warum konnte sie nicht einfach nur wütend auf ihn sein, ohne gleich wieder zu heulen? Weil ich einen Moment lang wirklich Angst hatte … Und weil sie ahnte, dass er die Angelegenheit nicht so schlimm finden würde wie sie. Wo war nur der alte Rafe geblieben, ihr Ritter auf dem weißen Pferd, der sie auf Händen getragen hatte? Stattdessen hatte ihr eine fremde Frau beispringen müssen.
Sie trug einen Stapel Zeitungen in den Verkaufsraum und begann, den Boden vor der Wand damit auszulegen. Den ganzen Vormittag hatte sie Bewerbungen verfasst, an Formulierungen gefeilt und Varianten ihres Lebenslaufs mit Firmenprofilen abgeglichen. Kleinigkeiten konnten entscheidend sein. Doch ständig hatte sie die jäh aus dem Nichts erscheinende Gestalt ihrer Retterin wieder vor sich gesehen, ihre warnende Stimme gehört.
Einerseits schien es abwegig, auch nur zu denken, sie könne sich mit ihren Worten auf Rafe bezogen haben. Andererseits kam Sophie so einiges an ihr seltsam vor. Sie hatte noch nie eine Polizistin allein auf Streife gesehen. Selbst die männlichen Gendarmen traten stets zu zweit oder gar zu dritt oder viert auf, weil es sicherer war. Aber sosehr sie auch ihr Gedächtnis bemühte, sie konnte sich an keine zweite Person in Uniform vor dem Club erinnern.
Noch merkwürdiger war, dass das Bild ihres Gesichts jedes Mal verschwamm, sobald Sophie versuchte, sich darauf zu konzentrieren. Es entglitt ihr wie ein Traum, den man im ersten Moment nach dem Aufwachen noch deutlich vor sich sieht, um sich immer weiter zu entziehen, je mehr man über ihn
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