Der Kuss des Greifen (German Edition)
den iPod, dann schob er sich durch die Drehtür und sah sich im Hauptfoyer um. Den meisten Raum nahmen Sicherheitsleute in Uniform, Metalldetektoren und Menschenschlangen ein, die zu Fenstern aus kugelsicherem Glas führten. Er rieb sich den Nacken und wollte gerade wieder hinausgehen, um die Hausnummer noch einmal zu überprüfen, als er seinen Namen hörte, den jemand quer durchs Foyer rief. Rune schwenkte wieder um.
Duncan, der Vampyr, kam auf ihn zu. Der eins achtzig große Mann trug einen schwarzen Ralph-Lauren-Anzug und dazu passende Schuhe. Sein Messerhaarschnitt lag glatt an seinem wohlgeformten Kopf an, er hatte angenehme Gesichtszüge und intelligente Augen. Auf ein Zeichen von Duncan öffnete einer der Sicherheitsleute eine Seitentür und forderte Rune auf, hindurchzugehen.
»Ich bin selbst gerade erst angekommen«, sagte Duncan. Der Vampyr streckte ihm die Hand entgegen.
Rune schüttelte sie. Der Handschlag des Vampyrs war fest und kühl. »Ich wollte gerade wieder nach draußen, um nachzusehen, ob ich die richtige Adresse habe. Was ist hier unten los?«
Duncan wandte sich wieder den Aufzügen zu. Neben ihm verkürzte Rune seine Schritte, um sich dem anderen Mann anzupassen. »Die Einwanderungsbehörde der Nachtwesen nimmt die untersten drei Stockwerke des Gebäudes ein. Hier beantragen Menschen Visa, um zu Vampyren zu werden …«
Er wurde vom Geschrei an einem der Panzerglasfenster unterbrochen. »Sagen Sie mir nicht, dass es noch vier weitere verdammte Monate dauert! Mein Vater hat Krebs der Stufe vier – er hat keine vier Monate mehr!«
Rune sah zu dem schreienden Mann hinüber und dann wieder zu Duncan, der leicht zusammenzuckte. Sie erreichten die Aufzüge, und Duncan drückte den obersten Knopf für den fünfundfünfzigsten Stock. Als sie einen der Aufzüge betraten, fuhr Duncan fort: »Verständlicherweise kann der Visaprozess emotional werden, darum die starke Security-Präsenz in der Lobby.«
Während sich die Aufzugtüren schlossen, näherten sich gerade zwei Sicherheitsleute der Auseinandersetzung. »Nur aus Neugier: Was geschieht mit Visaanträgen von Menschen, die unheilbar krank sind? Wird dieser Mann das Ganze für seinen Vater beschleunigen können?«, fragte Rune.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Duncan. »Es gibt immer wieder traurige Fälle, und es gibt zu viele verzweifelte Menschen, die im Sterben liegen.«
»Alter«, sagte Rune. »Autsch.«
Der Vampyr warf ihm einen Blick zu. »Ich will nicht gefühllos klingen. Aber nur zur Relation: Die USA hatten 2009 etwa vierzehn Millionen Bewerbungen für die Green-Card-Lotterie. Das nordamerikanische Reich der Nachtwesen erhält pro Jahr fast zehn Millionen Visaanträge. Zum einen muss unser Prüfverfahren gründlicher sein als das der Bundesregierung, zum anderen haben wir weniger Visa zu vergeben als die 2,5 Millionen, die von den Vereinigten Staaten gewährt werden.«
»Heilige Scheiße«, sagte Rune.
»Wir sind das einzige Reich, das auf diese Art der Regulierung angewiesen ist«, sagte Duncan. »Die langlebigen Alten Völker haben entsprechend niedrige Geburtsraten. Selbst bei den menschlichen Hexen reguliert die Natur, wer mit dem Funken magischer Energie geboren wird; und nicht jeder, der mit dieser Fähigkeit zur Welt kommt, will das Handwerk der Magie auch erlernen. Vampyrismus ist eine gefährliche, ansteckende Krankheit, nicht nur in körperlicher, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Früher war er nur für diejenigen erreichbar, die mit Schönheit, Reichtum oder magischer Macht gesegnet waren – und für jeden, der aus irgendeinem Grund das Interesse eines Vampyrs wecken konnte. Wir können es uns nicht mehr leisten, so kapriziös zu sein. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert war ich Mitverfasser der ursprünglichen Richtlinien für das Visabewerbungsverfahren, das alle zehn Jahre aktualisiert und verbessert wird. Außerdem stimmen wir uns jedes Jahr mit der Bundesbehörde für Infektionskrankheiten in Atlanta ab, um berechnen zu können, wie viele Bewerbungen wir insgesamt genehmigen dürfen.«
»Sie haben den Vampyrfilmen gerade jeden Reiz genommen«, sagte Rune. »Wie viele Bewerber konnten Sie im letzten Jahr akzeptieren?«
»Zweitausend.«
Er pfiff durch die Zähne. »Diese Zahlen sind der Hammer.«
»Ja«, sagte Duncan. »Aus diesem Grund werden Anträge so gut wie nie beschleunigt.«
»Was müsste man tun, um ein wenig nachzuhelfen?«, fragte Rune, der neugierig geworden war.
Duncan schüttelte den
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