Der Kuss des Greifen (German Edition)
noch mit deinem Urteil. Wir sind noch nicht fertig.«
Sie schürzte die Lippen. »Was meinst du damit, wir sind noch nicht fertig?«
Seine Augen lächelten sie an. »Halte mich noch etwas länger bei Laune. Bitte. Es wird auch nicht wehtun. Es ist nur zum Vergnügen. Und diesmal ist es nicht einmal verrucht oder böse«, sagte die Stimme der Erbsünde. »Und vielleicht gefällt es dir ja auch.«
Vergnügen. Da war es wieder, dieses Wort. Dieses unverständliche, unanständige Wort. Sein Blick war so warm und einladend, ebenso warm wie sein Körper. Und er besaß stärkere Anziehungskraft als jedes Feuer. Es war so einfach, sich auf seine Schmeicheleien einzulassen, und schon erwiderte sie sein Lächeln. »Wie auch immer. Mir soll es recht sein.«
»Vielen Dank, Carling«, raunte er, küsste sie sacht und nahm ihre Hand. Und dann war sie mit ihm wieder auf dem Weg ins Badezimmer. Er überredete sie, sich auf den Waschtisch zu setzen, dann kippte er den Inhalt der Einkaufstüte neben ihr aus. Sie blickte auf einen Haufen Guerlain-Kosmetik hinunter und musste schallend lachen.
Rune klappte eine Palette Lidschatten auf, hielt sie neben ihr Gesicht und betrachtete beides prüfend. Er nickte und legte die Palette beiseite.
»Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte sie.
Als Nächstes öffnete er ein Döschen Kompaktrouge, hielt es neben ihr Gesicht und sah es wieder prüfend an. Er kniff ein Auge zusammen, zuckte die Schultern und legte das Rouge beiseite.
»Rune«, sagte Carling und starrte ihn an. Ihr fehlten die Worte, um die Fassungslosigkeit zu beschreiben, die sie empfand.
»Was?« Er sah sie mit diesem schläfrigen, gefährlichen Lächeln an. »Du hast gesagt, du würdest mich bei Laune halten«, sagte er. »Also halt mich bei Laune.«
Carling sagte: »Aber ich habe Anrufe zu erledigen.«
»Seremela ist unterwegs, der Dschinn erledigt seine Aufgabe, und alle Telefonate, die geführt werden müssen, können noch eine Viertelstunde warten.« Während sie noch verzweifelt nach Gegenargumenten suchte, hob Rune eine Braue. »Habe ich recht?«
Sie stieß einen aufgesetzten Seufzer aus. Manchmal nämlich gab es wirklich keinen anderen Weg, etwas mitzuteilen.
»Ich weiß«, sagt er tröstend, während er eine Schachtel öffnete, in der ein Zobelhaarpinsel lag. »Hochhackige Stiefel, Jeans und jetzt das. Das ist wirklich sehr schwer zu verkraften.«
»Du hast ja keine Ahnung«, brummelte sie.
»Schhh. Und jetzt schließe die Augen.«
Und genau das tat sie, denn mit ihm zu streiten würde viel länger dauern, als ihn noch eine Viertelstunde länger bei Laune zu halten. Schließlich war es ja nicht so, dass sie noch nie Make-up getragen hätte. Unzählige Male schon hatte sie das getan. Während des Römischen Reichs hatte sie eine Cosmetae gehabt, die keine andere Aufgabe gehabt hatte, als ihr Kosmetik aufzutragen. In der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatte sie sich Haare und Gesicht im Rokokostil gepudert. Doch mit der Zeit war ihr das eigene Gesicht als Leinwand so unendlich langweilig geworden, dass sie schon vor langer Zeit davon Abstand genommen hatte.
Aber dass sich Rune diese alberne Idee in den Kopf gesetzt hatte, das hier und jetzt durchzuziehen, verwandelte etwas, das langweilig, zynisch und letztendlich lästig geworden war, in etwas gänzlich Fremdes, Erotisches und irgendwie Berührendes.
Mit beiden Händen hielt sie sich am Rande des Waschtischs fest, um stillzuhalten, während er sich zärtlich an ihrem Gesicht zu schaffen machte. Er strich mit Pinseln über ihre empfindliche Haut. Mit einer federleichten Berührung seiner Finger und einem kaum hörbaren Raunen forderte er sie auf, den Kopf zur Seite zu neigen. Wieder spürte sie seine Körperwärme an der Außenseite ihres Knies, als er sich mit der Hüfte gegen ihr Bein lehnte. Sie roch den Duft seiner Erregung, während sie auf das gleichmäßige Geräusch seines Atems und das leise Rascheln von Stoff auf Haut lauschte, wenn er sich bewegte.
Ganz offensichtlich hatte er nicht den Plan, sie zu verführen, und durch nichts von alledem fühlte sie sich zum Objekt gemacht. Er erfreute sich einfach an ihr, und das war so neu für sie, dass sie sich in jene furchteinflößende Zeit zurückversetzt fühlte, als sie mit Kohle, grünem Malachit und rotem Ocker geschminkt worden war, um einen Gott zu verführen. Wie seltsam, dass etwas, das so lange zurücklag, noch immer die Macht hatte, ihre Augen mit Tränen zu füllen.
Oder vielleicht war
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