Der Kuss des Greifen (German Edition)
seinen Messern in den Futteralen und ging ins Schlafzimmer. Er prüfte jeden Schritt, den er tat, jede Nuance dieser Erfahrung. Er erreichte die Biegung in der Übergangspassage, die Kehre, die auf eine andere Seite führte. Sie lag an einem einzigen Punkt, so präzise, dass er sich kleiner anfühlte als eine Nadelspitze. Es wäre so leicht, diesen winzigen Punkt zu verlieren, diesen winzigen Moment im unendlichen Strom all der anderen Augenblicke in der Zeit. Er hatte sich alle Mühe gegeben, sich den Wendepunkt einzuprägen, nur für den Fall, dass er ihn für die Rückkehr brauchen würde.
Das hieß, wenn er herausfand, wie man ihn benutzte. Zu seiner Enttäuschung entglitt ihm der Wendepunkt, wie es jeder Augenblick der Gegenwart tat, wenn er in die Vergangenheit überging.
Er ging viel, viel vorsichtiger vor als bei den beiden letzten Malen.
Denn nicht alles, was in Vegas passierte, blieb auch in Vegas, Baby.
Wieder stand Carling an einer Schwelle.
Jedes Mal, wenn sie einen solchen Punkt erreichte, ging ihr Leben zu Ende. Beim ersten Mal war es das Leben ihrer Kindheit am Fluss gewesen. Es geschah immer am Fluss.
Beim zweiten Mal hatte ihr Leben als Sklavin geendet, und jeden Tag kniete sie nieder, um diesem fremdartigen goldenen Gott Weihrauch zu opfern und Dankesgebete zu sprechen. Auch wenn er behauptet hatte, kein Gott zu sein. Aber er trug eine Sigille als Namen und hatte mit einem mörderischen Schlag und einem Kuss auf ihre Stirn die Sklavin Khepri getötet und an ihrer Stelle Carling erschaffen, die liebevoll umhegte Patentochter eines der mächtigsten Priester beider Länder.
Dank Runes Anordnung hatte sie mehr Zeit für sich genießen dürfen als die meisten anderen Frauen, die sie kannte. Und ihr Priestervater Akil hatte sein Wort gehalten und sie so gut ausgebildet wie einen Mann. Mit zweiundzwanzig Sommern hatte sie Maat , die Ordnung des Universums, studiert, außerdem die drei Arten von empfindungsfähigen Wesen, nämlich die Götter, die Lebenden und die Toten. Sie hatte auch das Privileg genossen, Heka zu studieren – oder »die Fähigkeit, Dinge durch indirekte Mittel geschehen zu lassen«. Und weil sie Zugang zu den Tempelbibliotheken gehabt hatte, konnte sie viele der Zaubersprüche lernen, die offiziell nur den Priestern bekannt waren.
Viele der Priester waren aufgeblasene, politisch gefährliche Windbeutel. Carling beobachtete sie, wenn sie Zaubersprüche murmelten und religiöse Riten abhielten, und sie kamen ihr vor wie lächerliche Possenreißer. Manchmal brüllten sie die Zauber nach Leibeskräften, als ob sie die Aufmerksamkeit der Götter auf sich lenken könnten, indem sie schrien und mit den Armen fuchtelten.
Sie hätte ihnen sagen können, dass sie so laut und theatralisch beten konnten, wie sie wollten. Ohne Kneph , den heiligen Atem, der Dingen Leben einhauchte und ihnen Gestalt verlieh, würden ihre Sprüche nicht wirken. Nur wer über diese magische Kraft verfügte, konnte die wahre Bewegung in den Zaubersprüchen erwecken und hoffen, die Götter zu erreichen.
Carling hatte schon immer Kneph besessen, auch wenn sie nicht immer gewusst hatte, wie sie es bezeichnen sollte. Wenn sie einen Zauber aussprach, funktionierte er, aber für eine Frau galt es als ketzerisch, so etwas zu behaupten. Deshalb beschränkte sie ihre Studien auf die wissenschaftliche Ebene und behielt das Wissen um ihre Fähigkeiten für sich. Obwohl sie als bevorzugtes Patenkind behandelt wurde, war sie nicht von edler Geburt und konnte daher keine Dienerin Gottes werden.
Aber sie hatte ohnehin nie eine Dienerin sein wollen, denn die weiblichen Priesterinnen sangen zwar verdammt viel, taten sonst jedoch herzlich wenig Besonderes. Carling hatte nicht die Absicht, ihr Leben damit zu verbringen, wie ein Singvogel im Käfig zu trällern.
Unter anderem aus Langeweile hatte sie deshalb zugestimmt, als Akil mit einer politisch brillanten Partie an sie herantrat. Es war höchste Zeit, dass sie die engen Grenzen dieser Stadt verließ, die sich so sehr den Toten verbunden fühlte, und anfing, ihr eigenes Leben zu leben. Am folgenden Tag sollte sie einen unbedeutenden Wüstenkönig heiraten, der um ihre Hand angehalten hatte. Dann würde sie sehen, was sie mit diesem Mann anfangen konnte.
Es war eine vernünftige Entscheidung und ein außerordentlich günstiges Angebot für eine Frau, die einmal eine Sklavin gewesen war. Sie hätte begeistert sein sollen. Der König war viel älter als sie, aber sein Atem
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