Der Kuss des Greifen (German Edition)
oder Sanftes an sich. Sein narbenübersäter, eins zweiundachtzig großer Körper war mit den schweren Muskeln eines Mannes bepackt, der sein Leben im Krieg zugebracht hatte. Er hatte kurzes schwarzes Haar mit ein paar grauen Strähnen an den Schläfen, und in seinem Gesicht lag die Eindringlichkeit einer Gewehrkugel, gepaart mit der Art scharfer Intelligenz, die man brauchte, um den Abzug zu betätigen.
Rune dachte an die Gelegenheiten, bei denen er Carling und Julian zusammen gesehen hatte. Viele Jahre lang war ihre Beziehung Thema wilder Spekulationen gewesen. Rune hielt es für wahrscheinlich, dass sie früher eine Liebesbeziehung gehabt hatten, vielleicht in der Zeit, als Carling Julian verwandelt hatte. Aber diese Vermutung beruhte nur auf seinem Wissen um die Intimität, die häufig zwischen einem Vampyr und seinem Zögling entstand, nicht auf irgendwelchen konkreten Hinweisen. Ob sie nun ein Paar gewesen waren oder nicht, die Glut dieser Verbindung war vor langer Zeit erloschen. Jetzt behandelten Carling und Julian einander mit der kühlen Höflichkeit von Geschäftspartnern.
Diesen Gedanken verfütterte Rune zwangsweise an die geisteskranke Kreatur, die schon wieder versuchte, die Kontrolle über seinen Kopf zu übernehmen, und diesmal schaffte er es, sie im Zaum zu halten. Er war froh, dass er Julian im Augenblick nicht persönlich gegenübertreten musste. Er glaubte kaum, dass er sich hätte bremsen können, wenn der andere Mann tatsächlich anwesend gewesen wäre.
»Julian«, sagte Carling. Eine Pause. Ihre Stimme wurde eisig und präzise. »Ich bin mir sehr wohl dessen bewusst, was wir vereinbart hatten, aber die Lage hat sich geändert. Der Wyr-Wächter Rune und ich verfolgen eine Forschungsrichtung, die sich als fruchtbar herausstellt …«
In der folgenden Stille packte Rune die Enden des Messers mit beiden Händen.
Als Carling erneut sprach, war das Eis in ihrer Stimme zu einer Peitsche geworden. »Du bist mein Kind«, sagte sie dem König der Nachtwesen. »Mein Geschöpf. Nicht umgekehrt. Ich werde dich für nichts um Erlaubnis fragen. Du kannst mich in diesem letzten Bestreben unterstützen, oder du kannst glauben, dass ich bis in den Tod hinein verzweifelten Träumen hinterherjage. So oder so, es ist mir scheißegal. Was du hingegen nicht tun wirst, ist, mir in die Quere zu kommen. Und du wirst auch nicht versuchen, mir vorzuschreiben, was ich zu tun habe.«
Er hörte das leise Klicken im Nebenzimmer, als Carling behutsam den Telefonhörer auf die Gabel legte.
Rune lebte in einer aggressiven Atmosphäre, in der vulgäre Ausdrücke als ungezwungen angesehen, oft benutzt und in den meisten Fällen ignoriert wurden. Solche Ausdrücke jedoch von Carling zu hören, die so gut wie niemals fluchte, war irgendwie erschreckend. Es verlieh dem Gespräch eine alte, rohe Art von Intimität.
Das Messer zerbrach in seinen Händen, und er blickte auf die Einzelteile hinab. Er hatte es so stark gebogen, dass die von der Zeit beanspruchten Gelenke gebrochen waren.
Das reichte ihm noch nicht an Gewalt. Er wollte etwas kaputtschlagen. Am liebsten etwas mit einem adlernasigen, römischen Profil, das aua! sagen konnte.
Während er darauf wartete, dass Carling aus dem Schlafzimmer kam, blickte er durch die geöffneten Balkontüren hinaus. Carling kam nicht. Inzwischen war der frühe Abend angebrochen. Wieder einmal hatte Ikarus Feuer gefangen und stürzte auf den westlichen Horizont hinab. Draußen hatte sich der Großteil des Nebels verzogen. Zurückgeblieben war ein schwerer Dunst, der sich wie eine Decke auf Land und Meer legte und die Spitzen der Golden Gate Bridge in unwirkliche Türme verwandelte. Rune hatte von einem Stamm der Ureinwohner gehört, die glaubten, dass der Schleier zwischen den Welten bei Nebel dünner wurde und die Geister der Vorfahren und anderer Wesen sich dann freier auf dieser Erde bewegten. Vielleicht hatten sie recht. Vielleicht war er einer dieser Geister, die sich zwischen den Welten bewegten.
Er musste jetzt wirklich Dragos anrufen.
Aber da legten sich die Wellen von Carlings magischer Energie über die Szenerie.
Diesmal lag hinter der Passage kein Tageslicht, sondern die dunkle Skizze einer samtenen Nacht, die sich wie ein Albtraum über die sonnenhelle Suite legte. Er roch den schweren, feuchten Geruch des Flusses und den beißenden Hauch von brennendem Weihrauch.
Die Hände zu Fäusten geballt, stand er da und starrte auf die offene Schlafzimmertür. Dann griff er nach
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