Der Kuss des Greifen (German Edition)
Jahren. Carling schätzte sie auf etwa dreihundertachtzig. Ihre Kopfschlangen reichten ihr bis zu den Oberschenkeln. Wenn sie sehr alt war, würden sie den Boden berühren. Ihre Haut hatte einen cremig-blassen Grünton und war mit einem schwachen Schlangenhautmuster überzogen. An ihren schlitzförmigen Augen saßen Nickhäute, die im Augenblick geöffnet waren. Einige ihrer Kopfschlangen prüften züngelnd die Luft, während sie um Seremelas Taille und über ihre Schulter hinweg neugierig zu Carling spähten.
Die meisten Kopfschlangen der Meduse jedoch waren weit mehr an Rune interessiert. Carling sah, wie einige der Schlangen an seinem Arm hinaufglitten. Bildete sie sich das ein, oder konnten Kopfschlangen tatsächlich anbetungsvoll gucken?
Weder Rune noch Seremela achteten darauf, was die Schlangen der Meduse taten. Sie waren in ihr Gespräch vertieft und sprachen über Carling.
Diese legte den Kopf schief und spitzte die Lippen.
Schlangen. Sie ging auf sie zu und schnappte sich mit jeder Hand eine der beiden Kopfschlangen. Rune beobachtete sie überrascht, während Seremela aufsprang, errötete und sich überschwänglich entschuldigte. »Es tut mir leid. Ich habe nicht aufgepasst. Sie haben ihren eigenen Kopf, wissen Sie, und, na ja, sie mögen Rune.«
Carling ignorierte sie. Sie hob die beiden Schlangen hoch und sah sie an. Züngelnd erwiderten sie ihren Blick, sie wirkten nicht beunruhigt oder verstört. Als sich einige weitere Kopfschlangen erhoben, um sich um Carlings Handgelenke zu winden, lachte Seremela verlegen auf. »Sieht so aus, als würden sie Sie auch mögen.«
»Aber natürlich«, sagte Carling zu den Schlangen.
»Natürlich was?«, fragte Rune.
»Du hast gesagt, es sei wichtig, zum Anfang zurückzukehren, und das war es«, sagte Carling. »Die Schlangengöttin war nicht nur ein archaisches, abergläubisches ägyptisches Volksmärchen. Sie war ein reales Wesen namens Python, das wirklich existiert hat. Also ist der nächste logische Schritt, dass der Kuss der Schlange wirklich der Kuss einer Schlange ist. Vampyrismus hat sich zu einer durch Blut übertragenen Krankheit entwickelt, und Vampyre werden durch Blutaustausch erschaffen, aber angefangen haben muss alles mit einem Gift.«
Nach diesen Worten mussten Carling und Rune die Geschichte von Anfang an erzählen. Seremela hörte sich alles, was sie sagten, aufmerksam an. Sie wirkte erschüttert von dem Gedanken, dass die Geschichte verändert worden war, und unterbrach sie hin und wieder, um Fragen zu stellen. Dann hörte sie von Carlings frühen Skizzen von Python. »Sie haben Python gezeichnet? «, hauchte die Meduse.
»Nein, ich bin Python nie begegnet«, korrigierte Carling mit einem Lächeln. »Ich habe die Bilder von ihr abgezeichnet, die sich an einer Höhlenwand befanden.«
»Was würde ich darum geben, sie zu sehen«, sagte Seremela mit glänzenden Augen. »Wussten Sie, dass wir uns die Kinder Pythons nennen?«
Carling und Rune sahen einander an. Sie hatte sich neben ihm auf die Couch gesetzt, und er hatte die Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet. Hin und wieder spielte er mit den Haaren an ihrem Hinterkopf. Carling schüttelte den Kopf, und Rune sagte: »Ich hatte auch keine Ahnung.«
Die Meduse zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob das historisch ansatzweise korrekt ist. Wenn die Medusen wirklich Pythons Kinder sind, muss das sehr lange zurückliegen, Jahrtausende vor der Höhle in Ägypten.«
»Weißt du, was aus ihr geworden ist?«, fragte Rune. Er beobachtete Seremela mit gespannter Miene. »Ich habe nur gehört, dass sie gestorben ist.«
»Sie ist nach Griechenland gereist und wurde bei Delphi getötet«, sagte Seremela. »Manche Versionen der Geschichte besagen, sie wurde ermordet. In der griechischen Mythologie hat der Gott Apoll sie getötet, aber mit der griechischen Mythologie ist es wie mit der ägyptischen und jeder anderen Mythologie auch – die meisten Mythen sind absonderliche Geschichten, in denen ein Körnchen Wahrheit steckt. Ich habe andere Geschichten gehört, in denen es nur hieß, sie sei beim Sturz in eine Erdspalte getötet worden. Aber sie hat lange genug in Griechenland gelebt, um das Orakel von Delphi zu errichten.«
»Ich dachte, das Orakel sei ein genetisches Erbe, und die Wahrsagefähigkeit des Orakels sei in einer menschlichen Familie von Generation zu Generation weitergegeben worden«, sagte Carling. »Das jedenfalls haben mir frühere Orakel erzählt.«
Schon vor langer Zeit war das
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