Der Kuss des Greifen (German Edition)
sehr groß und fremdartig, und wir haben uns eine Weile unterhalten, aber ich stand ziemlich unter Schock und habe nichts von dem behalten. Dann bist du gegangen.«
Er sah auf ihre Hände hinab. »Erinnerst du dich daran, wie ich fortging?«
»Nein«, sagte sie. »Bist du wieder geflogen? Ich wünschte, ich wüsste es noch.«
Er schüttelte den Kopf, schwieg jedoch. Zart rieb er mit dem Daumen über die Kontur ihrer Kniescheibe und schien sich ganz auf diese kleine Bewegung zu konzentrieren.
»Tja«, sagte sie nach einer Weile. »Am gleichen Tag grasten Reiter aus der Stadt unser Dorf nach Sklaven ab. Sie nahmen die Jungen, Gesunden und Hübschen und töteten alle anderen, die versuchten, sie aufzuhalten. Ich habe gesehen, wie sie meinen Vater umbrachten. Natürlich war es schrecklich, ich war damals vielleicht sieben Jahre alt. Aber ich hatte viel Zeit, um darüber hinwegzukommen, und die grausame Tatsache ist: Wenn ich nicht irgendwie dort herausgeholt worden wäre, hätte ich vermutlich ein sehr kurzes Leben im Flussschlamm geführt und wäre dort gestorben. Aber nie habe ich vergessen, wie du hoch über mir geflogen bist.«
Er hielt den Kopf gesenkt und nickte, dann fragte er: »Warum hast du deinen Namen geändert?«
Sie zuckte ungeduldig die Achseln. »Ich habe mir meine Freiheit erkämpft und die Kontrolle über mein Leben übernommen, und dann habe ich auch die Kontrolle über meine Identität übernommen. Ich wollte einen moderneren Namen, einen, der ganz und gar aus mir kam. Carling war nicht so weit von Khepri entfernt, was den Übergang erleichtert hat. Eines Tages war es an der Zeit, das kleine Sklavenmädchen zu begraben. Es war tatsächlich eine Erleichterung.«
Sein Mund spannte sich. »Ich wünschte, ich hätte bleiben können, um dir und deiner Familie zu helfen.«
Sie runzelte die Stirn. Was hatte sie gesagt? Er sah aus, als litte er Schmerzen. »Wie gesagt, das liegt schon sehr lange zurück.«
Er stand so abrupt auf, dass sie heftig zurückfuhr. Einen sengenden Augenblick lang sahen sie einander in die Augen, dann wandte er den Blick ab. »Sicher«, sagte er. Seine Stimme war heiser geworden. »Ich werde eine Pause machen und mir etwas die Beine vertreten. Lass uns in zehn Minuten hier weitermachen.«
»Wenn du willst«, sagte sie langsam.
Er nickte ihr knapp zu und schritt aus dem Zimmer.
Sie betrachtete die leere Ottomane, auf der Rune gesessen hatte, und klopfte mit den Fingern auf die Armlehne ihres Sessels. Noch einige Minuten, nachdem er gegangen war, lag die Intensität seiner Aufregung wie ein heißes, schneidendes Gewicht auf dem Zimmer.
Offensichtlich war irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung, aber sie kam nicht dahinter, was es war – und wenn ihr Leben davon abhinge.
Während Rune durch das dunkle Haus lief, versuchte er, Luft zu bekommen. Ein heißer, unsichtbarer Felsbrocken zerquetschte ihm förmlich die Brust. Carling hatte ihn mit derselben Freude und demselben Staunen angesehen, wie es das Kind Khepri getan hatte. Ihr Gesicht war noch schöner, wenn es frei von Zynismus und Berechnung war, und wenn sie die Distanz fallen ließ, die sie zwischen sich und dem Rest der Welt aufgebaut hatte.
Wie hätte er in ihr von Staunen erfülltes Gesicht blicken und ihr sagen können, dass er ihr nicht vor Tausenden von Jahren in Ägypten begegnet war, sondern genau hier und erst vor ein paar Stunden? Was zum Teufel war passiert? War es eine kunstvolle Illusion, die ihr Geist erschaffen hatte? Wie hätte er mit ansehen können, dass sich die größte Freude, die er je an ihr gesehen hatte, in Entsetzen verwandelte, wenn sie begriff, wie furchtbar ihr Geist und ihre Magie – die beiden Dinge, auf die sie am stolzesten war – sie getrogen hatten?
Er konnte es nicht. Sie blickte dem Ende ihres Lebens mit Mut und echter, wenn auch bitterer Würde und Anmut entgegen, und anstatt sich dem gemeinsam mit ihr zu stellen, rannte er davon wie ein feiger Hund. Er verspürte Enttäuschung und Ekel vor sich selbst, brachte es aber auch nicht über sich, umzukehren und ihr gegenüberzutreten. Noch nicht. Nicht bevor sein Kopf nicht wieder klar war. Damit er etwas beitragen konnte, wie er es von Rhoswen gefordert hatte, statt von Carlings ohnehin überstrapazierten Ressourcen zu zehren.
Durch den Spalt der Küchentür fiel Licht. Er fand Rhoswen am Küchentisch. Den Kopf in die Hand gestützt, sah sie Rasputin dabei zu, wie er auf dem Boden neben dem Herd sein Abendessen fraß.
»Ich
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