Der Kuss des Greifen (German Edition)
was hier vorgeht, ist es dir das Wichtigste, wissenschaftlich zu bleiben?«
Das kurze Auflodern ihrer Wut verebbte. Sie rieb sich das Gesicht und seufzte. »Es ist wichtig, dass ich die beste Arbeit hinterlasse, die mir möglich ist, damit hoffentlich jemand die Forschung fortsetzen kann. Vielleicht wird man ein Heilmittel finden oder das Fortschreiten der Krankheit auf eine Art aufhalten können, wie ich es nicht konnte. Niemandem ist damit gedient, wenn ich fruchtlose Spekulationen hinterlasse, in denen letzten Endes mehr Verzweiflung als Vernunft steckt.«
Stille breitete sich im Zimmer aus. Sie war von einer solchen Spannung erfüllt, dass sich Carlings Muskeln zusammenzogen. Rune stieß sich von der Sessellehne ab und trat um das Möbelstück herum. Müde sah sie ihm dabei zu, wie er eine der Ottomanen hochhob, sie vor ihr abstellte und sich daraufsetzte. Als er nach ihrer Hand griff, wurde ihre Miene kühl, doch sie ließ es geschehen. Fürs Erste.
Er blickte auf ihre Finger hinab, und sie tat das Gleiche. In seinen viel größeren Händen mit den quadratischen Innenflächen wirkten sie so schlank und zart. Äußerlichkeiten konnten trügen. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie viele Wesen sie mit diesen Händen schon getötet hatte.
Runes Aggression war verschwunden. Carling wünschte, sie könnte irgendwie verhindern, dass der Anblick seines hageren, gutaussehenden Gesichts ihr in den müden, nutzlosen Überresten ihres Herzens schmerzte. Dieses Gefühl war noch etwas, das sie an sich selbst nicht verstand, und sie wusste nicht, was sie tun konnte, damit es aufhörte. Sie wünschte, sie könnte das Beste aus dieser flüchtigen Zeit machen, denn schon viel zu bald würde sie vorüber sein. Sie wollte Runes männliche Schönheit so betrachten, wie sie es verdiente, einfach nur mit Freude.
Als Rune weitersprach, klang seine Stimme sanfter. »Du hast dich zu sehr an den Gedanken gewöhnt, zu sterben.«
Sie würdigte ihn keiner Antwort, sondern hob nur eine Augenbraue.
»Ich weiß. Aber nimm meine Worte ernst, Carling. Ich glaube, dass die geistige Haltung zu einer gewissen Nachlässigkeit im Denken führen kann. Dir bleiben nicht mehr Jahrhunderte oder auch nur Jahre für deine Forschungen. Gerade jetzt kannst du es dir nicht leisten, passiv zu bleiben oder Dinge zu verschweigen, nur weil sie für dich keinen Sinn ergeben.«
Einen Augenblick lang sah sie ihn an. Dann hob sie eine Hand und legte sie an seine warme, hagere Wange, was sie beide gleichermaßen erschreckte. Er erstarrte und blickte sie verblüfft an.
»Ich glaube, du bist ein guter Mann«, sagte sie. So alt sie auch war, davon war sie im Laufe der Jahre doch zu wenigen begegnet. Als Frau mit magischer Macht hatte sie eher ambitionierte Männer angezogen. Nicht, dass Ambitionen unbedingt etwas Schlechtes waren, aber sie hatten die Tendenz, Moral und Blickwinkel zu verzerren. Letztlich hatte es niemanden gegeben, der sich seiner eigenen Macht sicher genug gewesen wäre, um sich von ihrer nicht bedroht zu fühlen, und auch niemanden, dessen Interesse an ihr größer gewesen wäre als das an seinen eigenen Zielen. Und keiner war so stark gewesen, dass sie bedingungslos an ihn hätte glauben können. Sie lächelte Rune an. »Ich weiß es zu schätzen, dass du mir helfen willst, und ich werde mit Freuden versuchen, um mein Leben zu kämpfen. Aber ich befürchte, dass du hier gegen Windmühlen kämpfst.«
Er gab ein schiefes Lächeln zurück, bei dem sich seine Wange unter ihren Fingern bewegte. »Vorhin war ich ziemlich sicher, dass ich Alice im Wunderland war. Allerdings bin ich für einige Leute unsichtbar geworden, also war ich genau genommen auch die Grinsekatze. Es dürfte also kein Problem darstellen, auch noch den Geist von Don Quijote heraufzubeschwören.«
Amüsiert sagte sie: »Das ergibt überhaupt keinen Sinn.«
Neben seinen lebhaften, sinnlichen Lippen zeigte sich ein Grübchen. »Das liegt nur daran, dass ich nicht weiß, wovon ich rede.«
»Eins muss ich dir lassen. Dieser Satz hätte wirklich von der Grinsekatze stammen können.«
»Jetzt kommen wir uns selbst zuvor«, sagte er. Als sie die Hand von seiner Wange nehmen wollte, hielt er sie fest und drückte einen Kuss auf ihre Handfläche. Bevor sie reagieren konnte, ließ er ihre beiden Hände los.
Verwirrt, gewärmt und irgendwie enttäuscht verschränkte sie die Finger ineinander und legte sie steif in ihren Schoß.
»Ich werde den Rest später allein lesen. Jetzt möchte
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