Der Kuss des Greifen (German Edition)
die Arme um ihre Knie und sah zu, wie die kleinen, jungen Flammen am Holz leckten. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie den Schutzzauber von sich abfallen, um sich in der aufkommenden Hitze zu wärmen.
Was hatte diesen inneren Aufruhr in Rune ausgelöst? Plötzlich ungeduldig, stand sie auf. Spekulieren war sinnlos. Sie konnte nicht wissen, was ihn verstört hatte, solange er sich nicht entschloss, es ihr zu sagen. Auf seine Rückkehr zu warten, machte sie hilflos, und sie verabscheute es, sich hilflos zu fühlen.
Sie ging zu den großen, nach Osten weisenden Fenstern und öffnete sie. Ein rastloser Wind fuhr ins Zimmer und zerzauste ihr Haar, während sie zu einem gigantischen Vollmond hinaufblickte. Ein Hexenmond. Wenn er sich vom Horizont entfernte, würde er kleiner wirken, doch jetzt hing er unglaublich groß und in der Farbe von köstlichem Champagner über den elfenbeinfarbenen Konturen des schwarzen Ozeans. Das hellste Juwel am Nachthimmel glich dem Schmuckstein an der Halskette einer Göttin und die zahllosen, verstreuten Sterne dem Filigran, in das der Edelstein eingefasst war.
Seit sie diese Insel für sich beansprucht hatte, zeichnete sie die Konstellationen der nächtlichen Sterne im Verlauf der Jahreszeiten auf. Es war ein müßiges, nutzloses Hobby, und sie hatte nie herausgefunden, ob es sich tatsächlich um dieselben Sterne handelte, die man von der Erde aus sehen konnte. Zu unterschiedlich waren ihre Positionen im Verhältnis zueinander, und Satellitenteleskope, mit denen man die Sternbilder in den Tiefen des Alls erfassen und mit denen der Erde vergleichen konnte, würde es hier niemals geben.
Vielleicht waren es auch ganz andere Sterne. Das glaubte Carling zwar eher nicht, aber letztlich spielte es keine Rolle. Hier waren die Sterne nichts weiter als ein Rätsel und eine Zierde. Auf ihren Anordnungen lastete nicht das Gewicht historischer Glaubensvorstellungen. Mit bestimmten Konstellationen waren keine Mythen verknüpft, und es gab nichts, wohin man ein Schiff anhand ihrer Positionen hätte steuern können. Egal, wohin man segelte, man gelangte immer zur Insel zurück. Diese kleine Blase dimensionaler Wirklichkeit war nichts weiter als eine Saatperle neben dem Mondanhänger der Göttin.
Als ihr der Rest der Welt zu viel geworden war, war die Insel ein guter Rückzugsraum gewesen, um wenigstens ein gewisses Maß an Abgeschiedenheit und Ruhe für ihre Forschungen und Studien zu finden – wenn sie die Zeit aufbrachte, sich diesen zu widmen.
Sie nahm an, dass diese Insel ihr genauso ein Zuhause war wie jeder andere Ort, an dem sie gelebt hatte, und sie war weitaus besser als die meisten anderen. Mit den schüchternen, geflügelten Kreaturen, die in den Wipfeln der Mammutbäume lebten, hatte sie Frieden geschlossen. Rund um den Wald hatte sie Schutzvorrichtungen angebracht und niemandem gestattet, Jagd auf diese Wesen zu machen. Im Gegenzug fand sie hin und wieder Geschenke auf ihrer Fensterbank, eine schwarz schillernde Feder, eine perfekt geformte Muschel oder einen goldgeäderten Stein, manchmal auch eine Handvoll säuerlicher roter Beeren auf einem Blatt. Einmal hatte dort eine Kette aus eigenartig geschnitzten Holzperlen gelegen.
Der Ort hatte sich nicht verändert, aber der Frieden, den sie hier gefunden hatte, war abhandengekommen, und sie vermisste ihn. Sie vermisste ihn furchtbar.
Um diesen Frieden zu zerstören, war nichts weiter nötig gewesen als ein unbekümmerter Wyr, ein fremdartiges, uraltes Wesen, das in seinem tiefsten Inneren ein mitfühlender Mann war.
Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr.
Rune trat in die champagner- und elfenbeinfarbene Nacht hinaus. Vor ihren Augen drehte er sich zu den Klippen um und fing an zu rennen. Kraftvoll stieß er sich mit seinen langen Beinen ab und erreichte eine erstaunliche Geschwindigkeit. Sein kräftiger, breitschultriger Körper bewegte sich schneller und schneller auf den Rand der Klippen zu. Dann schnellte er wie die große Katze, die er war, in die Höhe, landete in geduckter Haltung auf der Steinmauer am Klippenrand und stürzte sich mit weit ausgebreiteten Armen in die Luft, wobei er den athletischen Körper in eine perfekte Turmspringerpose brachte.
Im Sprung verwandelte er sich. Enorme Flügel entfalteten sich aus dem Nichts, und seine mit breiten Muskeln besetzten Schultern schimmerten im Mondlicht, als sich sein Körper in den einer Katze verwandelte. An seinen vier säulengleichen Beinen saßen riesige
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