Der Kuss des Greifen (German Edition)
geringe magische Kräfte verfügte, war sie außerdem noch jung.
»Niemand hat es je zugegeben.« Carling hatte die Augen geschlossen. »Es machte ihnen Angst.«
»Nun gut, die wären wir los.« Er fasste ihr Knie fester, sein Blick blieb unverrückbar. »Aber ich werde nicht fortgehen. Ich bin nur froh, dass du es mir jetzt sagst. Erzähl weiter.«
Sein Blick berührte sie tiefer als alles, woran sie sich erinnern konnte. Es lagen Versprechungen darin, die ihr nie zuvor jemand gemacht hatte. Zum Beispiel, dass er keine Angst hatte und bei ihr bleiben würde. Dass sie sich unter allen Umständen auf ihn verlassen konnte. Dass sie es wert war, um sie zu kämpfen.
Sie wusste nicht, ob sie diese Versprechungen glaubte, aber bei dem Gedanken, dass sie wahr sein könnten, spürte sie tief hinter ihren Augen ein Brennen. Sie legte die Hände auf seine und drückte sie fest. »Also, meine magische Energie loderte auf, und ich löste mich von der Realität. Weißt du noch, dass ich gesagt habe, manchmal ginge ich in die Vergangenheit und manchmal wüsste ich nicht, wohin ich gehe?«
Er nickte. Weder seine Haltung noch seine Miene veränderte sich, aber irgendwie verschärfte sich seine Aufmerksamkeit.
»Heute war ich in der Vergangenheit. Immer wieder durchlebe ich meine frühen Erinnerungen, ohne dass ich wüsste, warum. Vielleicht liegt es daran, dass sie so prägende Momente enthalten. Vielleicht gibt es auch keinen Grund, und es passiert einfach so.«
»Erzähl mir von dieser frühen Erinnerung«, murmelte Rune.
»Ist das wichtig?« Sie neigte den Kopf und betrachtete ihn ebenso eingehend wie er sie.
»Ich weiß es noch nicht.«
»Na gut.« Sie zuckte die Schultern. »Ich ging zurück in meine Kindheit. Ich lebte in einem kleinen Dorf am Nil. Es war ein sehr einfaches, primitives und armes Leben. Wir lebten und atmeten den Rhythmus des Flusses. Wir gingen fischen und trockneten das, was wir fingen. Wir pflanzten und ernteten Getreide. Wir lebten einen Tagesmarsch von Memphis entfernt. Damals hieß es natürlich noch nicht Memphis.«
»Ineb Hedj«, flüsterte Rune.
»Ja.« Überrascht lächelte sie ihn an. Manchmal war es eine unaussprechliche Wohltat, mit anderen Lebewesen zu sprechen, die mindestens ebenso alt waren wie sie. Vieles von dem, was ihr widerfahren war, lag schon so lange zurück, dass es selbst aus der Geschichte verschwunden war. Die Erinnerungen waren ihr fremd geworden, wie Worte auf Papier oder eine Geschichte, die ein anderer erlebt hatte. Diesmal jedoch ließ sie sich in die echte Erinnerung fallen. »Der Tag war ziemlich ereignisreich. Ich bin einem Gott begegnet, und mein Leben hat sich für immer verändert.«
Rune schien wie erstarrt zu sein. Seine Hand war hart wie Stein, und nur seine Lippen bewegten sich, als er wiederholte: »Du bist einem Gott begegnet.«
»Ich half gerade bei der Ernte, als ich über mir einen gewaltigen geflügelten Löwen fliegen sah«, sagte sie leise. »Er glänzte kupferfarben und golden im blassen Morgenlicht, und er war so schön, dass ich bei seinem Anblick glaubte, meine Seele würde meinen Körper verlassen. Er hatte den Kopf eines Adlers …« Mit großen Augen sah sie Rune an. »Natürlich«, flüsterte sie. »Natürlich, er war ein Greif.«
In seinen Augen stand nur zu deutlich geschrieben, was er empfand, als Carling vom Fliegen sprach. Wildheit und Freude lagen darin – und eine gewisse Tragik, die sie nicht ansatzweise begriff. Verblüfft beobachtete sie die Bewegung seiner Kehle, als er schluckte. »Das war ich, Carling.«
Sie starrte ihn an. »Wie kannst du das mit Sicherheit wissen? Es ist vor Tausenden von Jahren geschehen. Du warst das Unglaublichste, was ich je gesehen hatte. So etwas wie dich hatte ich mir niemals vorstellen können. Aber für dich muss ich nur irgendein Menschenkind gewesen sein. Du müsstest mich doch direkt wieder vergessen haben.«
»Khepri«, sagte er mit sanfter Stimme. »Niemals, zu keiner Zeit in deinem Leben, hätte man dich vergessen können.«
Die Traurigkeit in seinem Gesicht zerrte an ihr. Sie beugte sich zu ihm vor und legte die Hand auf seinen Arm. »Was ist denn los?«
»Mach dir darum jetzt keine Gedanken«, sagte er. »Es ist deine Geschichte, und es ist wichtig, dass du sie erzählst.«
»Also gut.« Sie runzelte die Stirn, fuhr jedoch fort. »Ich weiß nicht mehr viel von der Begegnung. Ich erinnere mich an die Farbe deiner Haare. Sie glänzten golden in der Sonne, genau wie der Löwe. Du warst
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