Der Kuss des Greifen (German Edition)
Rhoswen.«
»Es ist nichts«, sagte er.
»Es ist nicht ›nichts‹«, murmelte sie. Die Wunden waren tief gewesen, vielleicht bis auf den Knochen, und in der Luft lag der schwere Geruch von Blut. Der Duft war so berauschend, wie sie sich den Geschmack seines Bluts vorgestellt hatte. Sie sah, dass es auf seine Jeans getropft war. »Hat sie von dir getrunken?«
Seine langgliedrige Hand schob sich unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. Er beugte das Gesicht über ihres, der Ausdruck darin war sanft, seine hageren Züge wirkten friedlich und die Löwenaugen waren klar. »Du schäumst ja, Carling«, sagte er freundlich. Und wie sie das tat. Vor seinem geistigen Auge konnte er die Wut sehen, die sich durch ihre Aura zog.
»Hat sie von dir getrunken?«
Er verharrte regungslos und starrte sie an. Dann hoben sich die Winkel seines schön geschwungenen Mundes ein winziges Stück. »Sie hat das Blut auf ihren Fingern gekostet.«
Carlings langgezogene, dunkle Augen leuchteten im silbernen Mondlicht rubinrot auf.
Rune fasste sie am Arm, als sie zum Haus laufen wollte. »Sie ist weg. Ich habe ihr schon einen kräftigen Tritt mit auf den Weg gegeben.«
Mühsam versuchte Carling, seine Worte zu begreifen. Ihr Zorn war eine alles überrollende Kraft, die ein Eigenleben besaß, und wehrte sich bockend gegen ihre Versuche, ihn unter Kontrolle zu bringen. »Was hat sie getan?«
»Sie hat sich kleinlichen Rachegelüsten hingegeben«, erklärte Rune. Er fasste ihr Gesicht, um es wieder zu sich zu drehen. Sein Lächeln war verschwunden, und er blickte ernst drein. »Ich habe sie gewarnt, sie soll sich von dir fernhalten. Wenn du ihr also begegnest, darfst du ihr nicht trauen, Carling.«
»Das werde ich nicht«, sagte sie.
Er ließ seine Finger unter das schwere Haar in ihrem Nacken gleiten und neigte das Gesicht zur Seite. Sie hatte den Kopf bereits angehoben, um ihn zart und zögernd zu küssen. Die ganze Leidenschaft von vorhin im Landhaus war noch da und brannte heiß unter dieser gemächlichen Zärtlichkeit. Dass er diesen Kuss um seinetwillen so sehr genoss, erlaubte es ihr, sich zu entspannen. Keine ihrer Erinnerungen an frühere sexuelle Erfahrungen hatte diese Dimension gehabt. Die Lust am Sex war ihr oberflächlich vorgekommen, und die wenigen Liebhaber, die sie gehabt hatte, waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Deshalb hatte sie sich bald gelangweilt und überhaupt keine Liebhaber mehr gewollt. Fasziniert von der fremdartigen Idee sexueller Zuneigung, schob sie ihre Lippen versuchsweise unter seine, und ihr scharfkantiger Zorn löste sich in sanft raunende Lust auf. Sie beugte sich ihm entgegen.
Er legte den freien Arm um sie und zog sie an sich, doch sein Kuss blieb leicht und unbefangen. Als sie die Hände flach auf seine breite Brust legte, fühlte sich seine nackte Haut unter ihren Handflächen so erotisch an, dass ihre Knie nachgeben wollten.
So heiß ihr Zorn auch gelodert hatte, das hier war heißer. Es kam ihr vor, als hätte sie eine Ewigkeit gehungert, als wäre sie so lange in einem dunklen Kerker ohne sinnliche Wahrnehmung eingesperrt gewesen, dass sie erst jetzt zu begreifen begann, wie verzweifelt ihre Seele geschrien hatte. Unkontrollierbare Zitterkrämpfe überliefen sie, und sie ertappte sich dabei, wie sie sich an Rune festhielt. Als ein Laut aus ihrer Kehle drang, erschrak sie aufs Neue, denn sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein solch raues, zitterndes Stöhnen ausgestoßen zu haben.
»Schhh«, flüsterte Rune. Beruhigend strich er über ihren Rücken und küsste sie auf den Mundwinkel, die Wange, die Schläfe. Dann zog er sie fest an sich. Er war so viel größer als sie und so sicher in seiner Kraft. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er ebenso entspannt dastünde, während um sie herum Berge einstürzten. »Dazu kommen wir noch, Darling. Und es wird das Beste überhaupt, das verspreche ich dir.«
Es war ein so zärtlicher Augenblick, voller Fürsorge und zugleich so verheerend. Sie wandte das Gesicht von seinen liebkosenden Lippen ab, denn sie wollte nichts weiter, als sich an ihn zu schmiegen und in sich aufzunehmen, seinen Duft und seine Gegenwart, seine schlichte, zuversichtliche Zuneigung und das leise Tosen der magischen Energie, die ihn stets ausfüllte. Eine ewige, elementare Flammensäule des Schöpfungsfeuers.
Während der ganzen Zeit, die sie daran gearbeitet hatte, magische Energie zu erwerben, hatte ihr Ehrgeiz die Regeln vorgegeben. All die Jahrhunderte
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